Wer bin ich wirklich?

Wer bin ich? - Zwei Freunde wandern im Frühling während der Mandelblüte durch die Weinberge der Pfalz mit den Fragen: Wer bin ich wirklich? Und: Wann bin ich wirklich präsent, im Hier und Jetzt?

Wer bin ich wirklich?

Wer bin ich? Das ist doch eine einfache Frage. Oder doch nicht? Jon Kabat-Zinn ermutigt uns:

„In der Meditation geht es ganz einfach darum, man selbst zu sein und sich allmählich darüber klar zu werden, wer das ist.“

Eine erste Näherung: Wer bin ich?

Unsere Identität gleicht einer Zwiebel mit vielen Schichten. Äußerlich definieren wir uns über Rollen: etwa als Mutter oder Vater, als Kind, als zuverlässige Mitarbeiterin, als langjähriger Freund. Diese Rollen sind wichtig für unser Miteinander, doch sind sie nicht der ganze Mensch.

Unter den Rollen liegen weitere Schichten: unsere Überzeugungen, Vorlieben, Ängste und Hoffnungen. Und ganz innen? Viele Traditionen – darunter das Zen – gehen davon aus, dass es so etwas wie ein wahres Selbst oder eine grundlegende Natur gibt, die unabhängig von den wechselnden Rollen besteht.

Doch was ist dieses wahre Selbst? Zen-Meister haben oft betont, dass das gewöhnliche Ich-Bild, an das wir uns klammern, letztlich eine Konstruktion ist. Wir erschaffen in unseren Gedanken ein Selbstsymbol – ein mentales Bild von „mir selbst“, zusammengesetzt aus Erinnerungen und Geschichten, das uns vertraut und greifbar erscheint.

Der Zen-Meister Rinzai lehrte, dass dieses konstruierte Selbstbild zwar einen praktischen Nutzen hat, aber nicht mit unserem wahren Wesen verwechselt werden darf. Andernfalls leben wir nur als Abbild unserer eigenen Vorstellungen. Tatsächlich neigen wir dazu, uns mit diesen Bildern zu identifizieren – wir glauben, die Summe unserer Rollen und Gedanken zu sein.

Hinter den eigenen Projektionen

Der Zen-Weg lädt dazu ein, hinter diese Projektionen zu schauen. Der Zen-Meister Dōgen formulierte es im 13. Jahrhundert so:

„Den Weg zu studieren heißt, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren heißt, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeutet, eins zu werden mit allen Existenzen.“

Dieses berühmte Zitat deutet an, dass wir unser wahres Selbst paradoxerweise gerade dann finden, wenn wir das kleine, egozentrische Selbst „vergessen“. In der Erfahrung tiefster Meditation lösen sich die üblichen Grenzen zwischen „mir“ und der Welt auf – man erfährt sich vollkommen verbunden als Teil des Ganzen.

Das „Selbstvergessen“ meint also kein Verlieren des Bewusstseins, sondern im Gegenteil ein Durchbrechen der engen Ich-Grenzen: das Loslassen der Vorstellung, ein getrenntes, fest umrissenes Ich zu sein – in vollem Bewusstsein. Was dann zum Vorschein kommt, könnte man als unsere ursprüngliche Natur bezeichnen – offen, verbunden und nicht durch Rollen oder Konzepte eingeengt.

Zen-Meister haben diese wahre Natur oft indirekt zu umschreiben versucht. Rinzai etwa sprach vom „wahren Menschen ohne Rang“, der stets präsent ist – jenseits aller Titel, Stellungen und Rollen. Mit „ohne Rang“ ist gemeint, dass dieses wahre Selbst keiner sozialen Position und keinem Status zugehörig ist; es ist einfach das, was wir wirklich sind, unverfälscht. Dieser wahre Mensch in uns ist nicht etwas, das wir uns erst erwerben müssten – er ist immer schon da.

Doch wir nehmen ihn im Alltag häufig nicht wahr, weil wir mit den oberflächlichen Schichten unserer Identität beschäftigt sind. Unsere Aufgabe auf dem spirituellen Weg, so könnte man sagen, ist es, die Verwechslung von Rolle und wahrem Selbst zu durchschauen.

Und im Hier und Jetzt? Wer bin ich da?

Identität ist nicht nur eine Frage wer wir sind, sondern auch wann und wo wir sind. Zen betont stark die Gegenwart: das unmittelbare Hier und Jetzt. Oft leben wir in Gedanken in der Vergangenheit („Hätte ich doch nur…“) oder in der Zukunft („Was, wenn…?“). Doch unser Leben findet jetzt statt, ausschließlich. – Und Zen-Lehrer und -Lehrerinnen erinnern uns daran, dass wir nur in diesem Moment wirklich lebendig sind. Was bedeutet das für die Frage „Wer bin ich?“

Wenn wir wirklich präsent sind, fallen viele unserer üblichen Selbstdefinitionen weg. In einem Augenblick voller Achtsamkeit bin ich nicht „jemand, der nächste Woche eine Präsentation halten muss“ oder „jemand, der sich noch über den Streit von gestern ärgert“. Ich bin einfach – hier, jetzt.

Rinzai lehrt, dass genau in diesem Hier-und-Jetzt unser wahres Selbst lebendig ist. Ein moderner Zen-Lehrer drückte es so aus:

„Wo immer wir sind, ist unser wahres Selbst gegenwärtig.“

Das heißt: Ob wir allein oder in Gesellschaft sind, ob wir gerade die Zähne putzen oder ein wichtiges Gespräch führen – das echte, unverstellte Sein ist immer da. Wir können ihm eigentlich nicht entkommen; vielmehr überdecken wir es oft durch Zerstreutheit.

Wie erkennen wir, ob wir wirklich im Hier und Jetzt sind?

Nicht alles, was sich wie „Im-Moment-Sein“ anfühlt, ist echte Präsenz. Wir können uns leicht selbst täuschen. Ein Beispiel: Jemand stürzt sich in waghalsige Abenteuer und sagt, er lebe „ganz im Jetzt“ – doch möglicherweise läuft er nur vor ungelösten Problemen davon. Oder wir gönnen uns Ablenkungen und nennen es Achtsamkeit, obwohl wir in Wahrheit Unangenehmes verdrängen.

Woran erkennen wir also echte Gegenwärtigkeit? Ein Kriterium ist die Qualität der Bewusstheit. Wahre Präsenz geht mit Klarheit und Wachheit einher. Zen-Meister warnen vor Zuständen scheinbarer Versenkung, in denen man zwar irgendwie weggetreten ist, aber nicht wirklich bewusst. Der Zen-Lehrer Katsuki Sekida unterscheidet zum Beispiel wahres Samadhi (Samadhi: tiefe Versenkung) von einem falschen Samadhi.

In echtem Samadhi ist der Geist gesammelt und jederzeit hell wach. Bei falschem Samadhi hingegen verliert man diese innere Führung: Man kann auch in Zorn, Gier oder Sorgen „versinken“, doch das ist nur ein Zustand der Verstrickung, das Anhaftens oder der Ablehnung, kein erwachtes Gewahrsein.

Übertragen heißt das: Wenn wir wirklich im Hier-und-Jetzt sind, dann sind wir uns zugleich bewusst, dass wir präsent sind.

Authentische Gegenwärtigkeit erkennen

Praktisch können wir uns fragen: Bin ich in diesem Moment frei von Ablenkung und Selbstsucht? Echte Gegenwärtigkeit fühlt sich oft still und klar an. Sie ist auch mit einer gewissen Gelassenheit verbunden – selbst wenn um uns herum Betriebsamkeit herrscht, bewahren wir im Zustand achtsamer Präsenz einen inneren Ruhepol.

Falsche „Präsenz“ hingegen kann man daran erkennen, dass sie leicht zerbricht: Sobald eine unvorhergesehene Schwierigkeit auftaucht, ist es vorbei mit der Bewusstheit. Ein authentisch im Hier-und-Jetzt verankerter Mensch bleibt hingegen auch in schwierigen Situationen einigermaßen zentriert und handlungsfähig.

Die Illusion des Hier und Jetzt

Wie entkommen wir der Falle der Illusion eines scheinbaren Hier-und-Jetzt-Seins?
Die Zen-Tradition bietet uns vielfältige Werkzeuge, um Illusionen zu durchschauen und echte Präsenz zu kultivieren. Zentral ist die Meditationspraxis Zazen, das „einfach nur Sitzen“. Im Zazen schulen wir uns darin, immer wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

Gedanken und Gefühle ziehen vorbei, doch anstatt ihnen blind zu folgen, lassen wir sie kommen und gehen, wie Wolken, die am Himmel vorüberziehen. Darunter erscheint nach und nach der klare Himmel des Geistes. Regelmäßiges Sitzen in Stille stärkt die Fähigkeit, zwischen echt und trügerisch zu unterscheiden: Wenn man oft genug erlebt hat, wie der Geist einem Streiche spielt – seien es Tagträume, Sorgen oder euphorische Fantasien – entwickelt man ein Gespür dafür, was authentisches Gewahrsein ist.

Die Zen-Lehrerin Ayya Khema betonte, Achtsamkeit bedeute vor allem, wach zu sein und genau zu wissen, was man tut. Mit anderen Worten: volle Gegenwärtigkeit und klares Gewahrsein von Innen- und Außenwelt. Um dieses wache Dasein zu fördern, empfahl sie Konzentrationsübungen und die schrittweise Schulung des Geistes.

Katsuki Sekida wiederum legt in seinem Zen-Training Wert auf Haltung und Atem: Aufrechtes, würdevolles Sitzen und bewusstes, tiefes Atmen helfen, Körper und Geist zu einen. Durch das Zählen der Atemzüge oder das Beobachten des Atemflusses kommt der Geist zur Ruhe und sammelt sich. In dieser Konzentration können wir Illusionen leichter erkennen: Wenn etwa plötzlich ein aufregender Gedanke ablenkt, bemerken wir ihn schneller und kehren zum Atem zurück.

So unterbrechen wir die Täuschung immer wieder, bis sie an Kraft verliert. Sekida schreibt, es sei wichtig, mit der Zeit Selbststeuerung zu kultivieren – ein inneres Zentrum, das auch während intensiver Erfahrungen stabil bleibt. Diese innere Stabilität sorgt dafür, dass wir nicht mehr so leicht auf scheinbares Erwachen hereinfallen, denn ein Teil in uns bleibt geerdet, verbunden mit der Wirklichkeit.

Ein lebenslanger Prozess der Selbsterkenntnis und Demut

Letztlich ist der Zen-Weg eine lebenslange Übung. Es geht darum, ehrlich mit sich selbst zu werden. Die Falle des scheinbaren Hier-und-Jetzt-Seins – also sich einzureden, man sei schon völlig präsent oder gar erwacht – wird durch Demut und fortwährende Praxis umgangen.

Zen-Meister empfehlen oft, sich einem Lehrer oder einer Gemeinschaft anzuvertrauen, die als Spiegel dienen können. Eine Gemeinschaft (Sangha) kann uns liebevoll darauf hinweisen, wenn wir uns etwas vormachen. Ein Lehrer oder eine Lehrerin kann mit scharfen Fragen unsere blinden Flecken beleuchten.

Am Ende führt uns Kabat-Zinns Rat wieder zum Anfang zurück: Sei ganz du selbst. Dieser Weg, ganz wir selbst zu sein, ist kein kurzer Sprint, sondern ein geduldiges Entdecken.

Mit jeder Meditation, mit jeder bewussten Handlung im Alltag lüften wir einen Zipfel des Schleiers und gewinnen Klarheit darüber, wer oder was wir in der Tiefe sind. Die Zen-Praxis zeigt: Das wahre Selbst ist nichts Fremdes – es war immer hier. Indem wir den Ballast aus Konzepten, Rollen und Illusionen abwerfen, enthüllen wir nach und nach unser eigenes ursprüngliches Sein.

In diesem Sinne ist die Antwort auf „Wer bin ich?“ keine theoretische Definition, sondern ein lebendiger Prozess. Wir sind – hier, jetzt, in Wachheit und Verbundenheit. Und je vollständiger wir in diesem gegenwärtigen Sein aufgehen, desto klarer erfahren wir den Sinn von Kabat-Zinns Worten und „finden allmählich heraus, wer das ist“.

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