Gegenwärtig sein kann durch viele andere Begriffe ausgedrückt werden: etwa durch »Präsenz« oder »Hier und Jetzt«, vielleicht auch durch »Wachheit«. In der Gegenwart, in diesem Augenblick zu sein – gegenwärtig sein – grenzt sich vom Verharren in der Vergangenheit oder dem Spazierengehen in der Zukunft ab. Beides ist nicht jetzt. Das eine ist nicht mehr, das andere noch nicht.
Selbstwirksam sein – nur im Augenblick
Wirklich wirksam sind wir nur in der Gegenwart, in diesem Augenblick. Dies gilt auch für die Begegnung mit anderen. Dass gegenwärtig sein einerseits eine wichtige Voraussetzung für Begegnungen mit anderen und eine große Kraft andererseits bedeutetet, verdeutlicht die folgende kleine Geschichte aus Brenda Shoshanns Buch »Furchtlosigkeit«:
Martin Buber, Autor und Religionsphilosoph, verbrachte viele Stunden an seiner Universität damit, zu studieren, Aufsätze zu schreiben und Gäste zu empfangen. Er empfing auch Studenten und andere Menschen, die seinen Rat suchten. Buber widmete ihnen Zeit, hörte sich ihre Fragen und Probleme an und ging darauf ein.
Eines Tages kam ein Student zu ihm und bat um Rat. Wie immer hörte sich Buber sein Problem an – so glaubte er jedenfalls – und erteilte ihm dann einen Rat nach bestem Wissen und Gewissen. Der Student bedankte sich und verließ sein Arbeitszimmer. Buber vertiefte sich wieder in seine Lektüre.
Alles war in Ordnung, dachte er. Am nächsten Tag erfuhr Buber, dass der junge Mann nach der Sprechstunde auf sein Zimmer zurückgekehrt war und sich erhängt hatte.
Martin Buber war wie vor den Kopf geschlagen. Er vermochte nicht zu denken, zu sprechen oder ein Buch aufzuschlagen. Tagelang beschäftigte er sich mit dem Studenten und dachte über diese Frage nach:
»Was braucht ein Mensch wirklich, wenn er verzweifelt ist und jemanden um Hilfe bittet?«
Gegenwärtig sein
Nach langem Nachdenken fand Buber eine Antwort. Wenn ein Mensch verzweifelt ist und jemanden um Hilfe bittet, so lautete seine Schlussfolgerung, braucht er in Wahrheit eine »Gegenwart«, durch die er trotz aller Qual weiß, dass es noch einen Sinn gibt.
Fortan schloss Buber seine Bücher, ließ von seinen religiösen Praktiken ab und missachtete seinen Namen und Titel – all das, empfand er, habe ihn davon abgehalten, für andere ganz gegenwärtig zu sein. Stattdessen konzentrierte er sich einfach darauf, völlig gegenwärtig und für das ganze Leben offen zu sein.
Er konzentrierte sich darauf, aus seinem wahren Selbst zu leben. Indem er sich von allen Insignien und Ablenkungen befreite, konnte er sich auf die Wahrheit des Augenblicks konzentrieren. Er ließ sich auf die direkte Erfahrung anderer ein und vermochte auf sie aus seiner tiefsten Wahrheit heraus zu reagieren. Wenn Besucher zu ihm kamen, trafen sie jemanden „zu Hause“ an.
Im Zen gibt es ein sprachliches Bild, welches den Augenblick, das Jetzt und seine Vergänglichkeit sehr anschaulich zeichnet:
„Der Moment ist flüchtig wie der Widerschein des Mondes im Tropfen,
der vom Schnabel eines Reihers fällt.“
Das nichtauthentische Selbst
Wenn wir ein Leben lang anderen eine falsche, nicht authentische Außenseite präsentieren, verlieren wir leicht den Kontakt zu unserer tiefsten Wirklichkeit – unserem authentischen Selbst. Dann fällt es uns schwer zu hören, was andere wirklich sagen oder was sie von uns brauchen.
Unsere Worte werden routiniert und leer. Die Menschen lauschen ihnen, ohne davon berührt zu werden. Erst wenn wir unser falsches Selbst beiseiteschieben, stellen sich wahre Gegenwart und Mitgefühl ein. Das ist, was uns inneren Frieden bringt.
Im Laufe unseres Lebens spielen wir meist eine Variante des Spiels »Tun wir mal so, als ob«. Wir sagen: »Tun wir mal so, als ob du das nicht gesagt hast und ich es nicht gehört habe. Tun wir mal so, als ob das, was passiert ist, eigentlich keine Rolle spielt. Ich helfe dir, deinen Schein zu wahren, und du hilfst mir, meinen zu wahren.«
Mut haben, der Mensch sein, der wir sind
Von Jugend an bringt man uns bei, eine öffentliche Persönlichkeit zu entwickeln, um anderen zu gefallen, Erwartungen anderer zu erfüllen und unser wahres Selbst großenteils zu verbergen. Doch nach und nach gewinnt diese falsche Persönlichkeit die Herrschaft über uns, und fortan haben wir ständig Angst, dass man uns auf die Schliche kommt, dass man dahinterkommt, dass wir ein anderer sind als der, der wir zu sein scheinen.
Diese Vortäuschung raubt uns unser wahres Leben. Wenn jemand an unsere Tür klopft und uns besuchen will, ist meist niemand zu Hause. Es kann ganz schön unheimlich sein, in einer Welt zu leben, in der man kaum jemanden findet, der einem wirklich zuhört, antwortet und wirklich da ist.
Und natürlich ist nichts heilsamer, und es gibt kein besseres Gegenmittel gegen Angst und Einsamkeit, als jemanden zu finden, der wahrhaft »da« ist. In diesen Augenblicken sind wir auch bei uns selbst »zu Hause«.
Es braucht Mut, der zu sein, der wir sind und dies in jedem Moment zuzulassen.