Zen ist eine Erfahrungs-Praxis. Kein intellektuelles Gedankengebäude. Und so kann es auch kein Lehrbuch zum Zen geben, welches rational, intellektuell oder logisch den Zen Weg erklärt.
Dennoch können Erkenntnisse oder manchmal nur Anstöße im Zen transportiert werden. Dazu bedient sich Zen kleiner Geschichten.
Hier die Geschichte des Zen-Schülers Milarepa, wie er auf seine Frage nach dem Wesen von Erleuchtung eine Antwort erfahren hat.
Erleuchtung und ein Sack auf dem Rücken
Jahrelang hatte ich, Milarepa, unermüdlich nach Erleuchtung gesucht, durchstreifte Tempel, las heilige Schriften und praktizierte Stunde um Stunde Zazen. Doch eine Antwort, die Erleuchtung, blieb mir verborgen. Eines Tages, während ich einem Bergpfad folgte, erspähte ich einen alten Mann, der mir mit mühsamen Schritten und einem schweren Sack auf den Schultern entgegenkam.
In seinem langsamen, bedachten Gang erkannte ich eine tiefe Weisheit, die ich so verzweifelt anstrebte. Als er näherkam, erkannt ich sofort die erleuchtete Weisheit in seinem Gesicht und seinem Wesen. Ich konnte nicht widerstehen. „Alter Mann,“ rief ich, „bitte teile mit mir das Geheimnis, das du trägst. Was ist Erleuchtung?“
Der Alte hielt inne, sein Blick traf meinen, erfüllt von einem warmen Lächeln, das die Jahre der Suche zu transzendieren schien. Mit einer sanften Bewegung ließ er den Sack von seiner Schulter gleiten. Als er so ohne Last dastand, ganz aufgerichtet und frei, fühlte ich eine Welle der Erkenntnis durch mich hindurchfluten.
„Ja, ich sehe! – Ich danke dir zutiefst,“ rief ich, von einer tiefen Einsicht durchdrungen. Doch eine Frage brannte noch in mir, so fragte ich weiter: „Sag mir, was kommt nach der Erleuchtung?“
Ohne ein Wort zu verlieren, lächelte der Mann erneut, bückte sich behutsam, hob den Sack wieder auf und setzte seinen Weg fort. Diesmal jedoch mit einem Lächeln, welches eine unbeschreibliche Gelassenheit ausstrahlte.
In diesem Moment verstand ich: Erleuchtung ändert nicht unbedingt die Umstände deines Lebens. Jedoch verwandelt sie deine Sicht auf sie und wie du sie trägst. Der alte Mann hatte mir gezeigt, dass wahre Erleuchtung darin liegt, jede Last mit einem Lächeln zu tragen, und dass das Leben, auch nach tiefen Einsichten, weitergeht – lediglich unsere Perspektive und unsere innere Haltung darauf ist eine neue.
Dieser kurze Austausch lehrte mich mehr als viele Jahre der Suche und des Sitzens. Erleuchtung ist nicht das Ende des Weges, sondern ein neuer Beginn, ein fortwährender Tanz mit dem Leben, getanzt mit Leichtigkeit und einem Lächeln.
Was erzählt diese Geschichte?
Die Zen-Geschichte des alten Mannes und seiner Last verdeutlicht zentrale Lehren über Erleuchtung:
Erleuchtung befreit von unnötigen geistigen Lasten und ermöglicht ein tiefes Verständnis des Lebens, ohne dass man sich von weltlichen Pflichten zurückzieht. Sie zeigt, dass nach der Erleuchtung das alltägliche Leben mit einer neuen Perspektive und einer inneren Haltung der Gelassenheit fortgeführt wird.
Das Lächeln des alten Mannes, sowohl vor dem Absetzen als auch nach dem Wiederaufnehmen der Last, symbolisiert die beständige innere Veränderung, die Erleuchtung mit sich bringt. Diese Geschichte lehrt, dass Erleuchtung nicht die äußeren Umstände verändert, aber den anderen Umgang damit, mit einer veränderten Haltung.
Erleuchtung ändert nichts … und doch alles.
Und was nimmst Du aus dieser Geschichte mit?