Zuhören ist einfach. Klar kann ich zuhören. Das mache ich doch oft im Verlauf eines Tages. – Ist das denn so? Nutzen wir dabei das volle Potenzial, welches im Zuhören liegt? – Weißt du, dass du die Welt alleine durch die Art und Weise deines Zuhörens verändern kannst?
Die Welt verändern durch anderes Zuhören
Das ist eine These von Otto Scharmer in seinem Ansatz für Veränderungen von Individuen, Gruppen und Gesellschaften, der als „Theory U“ bekannt ist. Theory U deckt systemische Kräfte auf, die sich auf die Art und Weise auswirken, wie Menschen arbeiten und zusammenleben. Es geht darum, Menschen zu helfen, sich von der Kunst des Möglichen heraus leiten zu lassen, anstatt lediglich auf der Ebene des vermeintlich Vorhersehbaren heraus zu agieren.
Das Augenmerk liegt auf konkreten Fähigkeiten, die einen Wandel bewirken. Eine dieser Fähigkeiten ist die des „tiefen Zuhörens“. Scharmer nennt sie die vier Ebenen des Zuhörens. Hier ist ein genauerer Blick darauf.
Ebene 1 Zuhören: Downloading oder Herunterladen
In der Ebene 1 des Zuhörens sind wir nicht wirklich anwesend. Unsere Gedanken sind ganz woanders, und das merkt auch das Gegenüber. Man könnte es auch Fake-Zuhören nennen. Das sind Situationen, wo wir zwar physisch im Gespräch dabei sind, unsere Aufmerksamkeit aber wo ganz anders ist. Man merkt es an Äußerungen wie: „Aha“ und „Okay“ oder ein automatisiertes Kopfnicken.
Und der andere bemerkt, dass wir gar nicht zuhören. Wir folgen dem Gesprächsinhalt nicht und können auch nur annähernd wiederholen, was gesagt wurde, während wir an andere Aufgaben, das Abendessen oder sonst irgendetwas denken.
Eine Variante davon ist eine Haltung im Gespräch, bei der man schon vermeintlich alles weiß, was der andere erzählt oder sagen möchte. Das kommt zum Ausdruck, wenn wir die Sätze des anderen – innerlich oder tatsächlich – mit eigenen Worten beenden. Unsere Aufmerksamkeit liegt dann auf dem, was unsere eigenen Erfahrungen, unser eigenes Wissen und unsere eigenen Annahmen dazu sind. Wir suchen in den Worten des anderen nach Bestätigung dessen, was wir sowieso schon zu wissen glauben.
Das geht dann vielleicht einher mit einer Ungeduld, in der wir versuchen das Gespräch abzukürzen. Wir sind dann auch schneller durch anderes abgelenkt. Und am Ende? Wir verlassen das Gespräch ohne neue Erkenntnisse, ohne etwas gelernt zu haben, ohne etwas in Frage gestellt zu haben. – Wir haben einfach nur unsere bisherige Erfahrungswelt zu den Themen dieses Gespräches heruntergeladen.
Diese Qualität von Zuhören nutzen wir öfter als wir denken. Manche meinen sogar, dass dies bei vielen Menschen die Vorherrschende sei. „Ah, ja. Was Du erzählst, das kenne ich schon“, „Ja, bei mir ist das genauso“ oder gedanklich „die schon wieder; die erzählt mir jetzt wieder …“.
Und die Sache ist die: Die Menschen, mit denen wir sprechen, merken wahrscheinlich, wenn wir nicht wirklich da sind. Sie fühlen sich vielleicht sogar ein wenig ignoriert oder nicht respektiert.
Open Mind: Ebene 2 Zuhören – Sachbezogenes Zuhören
Auf dieser Ebene hören wir nicht mehr nur auf das, was wir bereits wissen. Stattdessen konzentrieren wir uns darauf, zu erkennen, was wir noch nicht wissen. Wir sind konzentriert und hören aufmerksam zu. Wenn uns jemand eine neue Fähigkeit oder ein neues Vorgehen beibringen würde, würden wir auf Ebene zwei zuhören.
Die zweite Ebene des Zuhörens kann zu einer guten Diskussion führen, weil sie das hinterfragt, was wir bereits zu wissen glaubten. Wir gehen aus dem Gespräch mit neuen Informationen heraus, die einige unserer bisherigen Annahmen in Frage stellen.
Das ist definitiv eine Verbesserung gegenüber der ersten Ebene, aber sie ist hauptsächlich intellektuell. Wir trennen die neu erfahrenen Fakten des Gesprächs von der Person, mit der wir das Gespräch führen. Die Fakten stehen im Vordergrund und wir achten nicht auf die Nuancen im Gespräch, nicht auf Emotionen, mit der unser Gegenüber die Fakten in Verbindung bringt.
Das passiert zum Beispiel bei streitigen Gesprächen in Beziehungen. Ein Gesprächspartner fragt immer nach weiteren Fakten. Er will genau verstehen, was passiert ist. Vielleicht ohne zu bemerken, dass der andere wütend ist. Das ist dann oft kein gutes Gespräch für den anderen, der sich nicht wirklich gehört fühlt mit allem, was ihn da gerade bewegt. Und der andere könnte Wichtiges verpassen, was nicht in harten Fakten verpackt, aber für den anderen wesentlich ist.
Open Hart: Ebene 3 Zuhören – Empathisches Zuhören
Auf der dritten Ebene des Zuhörens beginnen wir, uns mit dem Gesprächspartner zu verbinden. Nicht nur mit den Informationen, die er oder sie verbal mitteilt. Wir gehen im Zuhören, im Wahrnehmen über sachliche Aussagen hinaus und beginnen, Nuancen, Gefühle und Emotionen zu erforschen, die damit verbunden sind.
Beim Zuhören auf dieser dritten Ebene beginnen wir, uns mit dem Sprecher auf einer emotionalen Ebene zu verbinden und „zwischen den Zeilen zu lesen“, um zu erkennen, was unausgesprochen bleibt. Wir können uns in die Situation des Sprechers hineinversetzen und die Dinge aus seiner Perspektive sehen.
Wenn wir die Welt mit den Augen eines anderen Menschen sehen, ist unser Herz offen, wie es Scharmer formuliert. Er nennt diese Ebene auch „Open Hart“ in Abgrenzung zum „Downloading“ der ersten Ebene und einem „Open Mind“ als Bezeichnung der zweiten Ebene.
Wir sind bereit, uns innerlich zu bewegen, uns zu öffnen und uns auf das einzulassen, was der andere im Gespräch sagt und fühlt. Wir verstehen den emotionalen Inhalt dessen, was er ausdrückt. Das ist der Grund, warum man diese „Open Hart“ Ebene auch Empathisches Zuhören nennt.
Wenn wir dies dritte Ebene des Zuhörens häufiger praktizieren würden, wären viele Beziehungsgespräche und viele berufliche Meetings produktiver, weil wir zu den Fakten und Sichtweise anderer Personen auch deren innerliche Beweggründe hören würden. Unsere Antworten wären angemessener, weil wir mitbekommen, was tatsächlich gerade „auf dem Tisch“ liegt. Das empathische Zuhören nutzt also sowohl dem Zuhörer als auch dem Redner und hält bereits den Kern der nächsten Ebene in sich.
Open Will: Ebene 4 Zuhören – Schöpferisches oder Generatives Zuhören
Beim schöpferischen Zuhören geht es darum, auf das zu hören, was möglich ist, was Möglichkeiten enthält. Auf die Zukunft, die sich entwickeln will. In einem Comic könnte dies durch ein Gespräch zwischen zwei Personen veranschaulicht werden, gefolgt von einer Glühbirne, die bei beiden Personen gleichzeitig aufleuchtet.
Die vierte Ebene sorgt für ein hervorragendes Gespräch. Wir verbinden uns nicht nur mit der Person, die spricht, sondern auch mit den Kerngedanken des Gesprächs und ihrer möglichen Zukunft, ihres Potenzials. Wir konzentrieren uns dann voll und ganz darauf, die bestmögliche Zukunft im schöpferischen Zuhören und Dialog herbeizuführen. Dabei fallen eigene Begrenzungen wie das Ego und andere Barrieren.
Wenn Menschen sich auf diese Weise auf eine sichere, optimistische und zukunftsorientierte Weise aufeinander abstimmen, können große Dinge erdacht werden, entstehen. Es ist möglich, neue Ideen zu entwickeln und die Energie und den Enthusiasmus aufzubringen, sie in die Realität umzusetzen.
Wir wissen, dass wir aus einer sich abzeichnenden Zukunft heraus zugehört haben, wenn wir und unser Gegenüber das Gespräch verändert verlassen. Für beide eröffnet sich eine neue Welt.
Scharmer bezeichnet diese Ebene des schöpferischen Zuhörens „Open Will“, was mit offenem Willen nur sehr vage übersetzt wird. Zutreffender wäre offene Absicht oder offenes entstehen lassen.
Was erfordert dieses Zuhören?
Ab der zweiten Ebene, dem Open Mind, braucht es zumindest Aufmerksamkeit. Präsenz, ein dabei Sein, um die Fakten und Informationen des Gegenübers zu erkennen und offen dafür zu sein. In den folgenden Ebenen des Open Hart und Open Will braucht es dann eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit: Achtsamkeit.
Hier werden die Elemente von Achtsamkeit besonders gut deutlich. Es beginnt mit Aufmerksamkeit und setzt sich fort in Wahrnehmung (eine essenzielle Voraussetzung für Empathie) und einem zunächst Zurückhalten von Bewertungen. Achtsamkeit liegt also als Basiskompetenz unter diesen Ebenen des Zuhörens.
„Weißt du, dass du die Welt alleine durch die Art und Weise deines Zuhörens verändern kannst?“ – Dieses Zitat strahlt großes Potenzial aus, oder? Es lässt sich Schritt für Schritt, durch immer neues Anwenden und Üben ins Leben bringen.