Gefühle – Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Je nachdem, in welchem Gefühlszustand wir sind, möchten wir vor Freude die ganze Welt umarmen oder uns weinend irgendwo in die Ecke kauern und am liebsten nie mehr aufstehen.
Gefühle lassen sich nicht einfach abschütteln
Düstere Gedanken lassen sich vielleicht für kurze Zeit durch freundlichere vertreiben. Bei Gefühlen funktioniert das nicht. Sie entziehen sich unserer Kontrolle und führen ein Eigenleben. Eben noch waren wir heiter und gelassen, plötzlich platzt uns der Kragen oder wir sind wegen einer schlechten Nachricht verzweifelt.
Gefühle sind mächtig
Gefühle sind mächtig, sie überfallen uns wie Räuber, die sich von uns unbemerkt anschleichen. Oder sie besuchen uns wie Gäste. Ganz so wie im sehr bekannten Gedicht des Sufi-Mystikers Rumi aus dem 13. Jahrhundert („Das Gasthaus„). Und obwohl wir sie manchmal gern abschütteln möchten, wenn sie übermächtig werden, sind sie gleichzeitig enorm verführerisch. Sie bringen Aufregung, Drama und Intensität in unser Leben. Sie sind das Salz in der faden Alltagssuppe, manchmal auch die Zwiebel, die uns die Tränen in die Augen treibt.
Ein Echo aus der Vergangenheit
Weil Gefühle scheinbar urplötzlich auftauchen und von uns Besitz ergreifen, ist uns nicht bewusst, dass sie oft wenig mit der Gegenwart zu tun haben und vielleicht ein spätes Echo alter, längst vergangener Erfahrungen sind. Das Echo ist so laut, dass wir zusammenzucken, aus dem gegenwärtigen Moment herausfallen und in die Vergangenheit katapultiert werden, ohne es zu merken.
Wir sind neu im Team, ein Kollege macht eine Bemerkung, und plötzlich fühlen wir uns wie damals mit sieben in der Grundschule auf dem Pausenhof, als wir Außenseiter waren und keiner mit uns spielen wollte. Das Gefühl von Einsamkeit, die Angst, ausgeschlossen zu sein, kriecht hoch, breitet sich in jeder Zelle aus, wir sind wie gelähmt und möchten sofort anfangen zu heulen, weglaufen oder angreifen.
Wegdrücken ist kein guter Weg
Im Zen geht es nicht darum unangenehme Gefühle zu unterdrücken. Im Gegenteil. Alles, was wir mit Macht wegdrängen, wird noch stärker und wirkt im Untergrund. Verdrängung und Selbstverurteilung ist nicht die Lösung, denn: Hast du ein Problem und willst es nicht haben, hast du gleich zwei. Im Buddhismus werden Emotionen »leid-bringende Geisteszustände« genannt. Was Leid bringt, wollen wir so schnell wie möglich loswerden, doch der Weg zur Befreiung führt über liebevolle Akzeptanz.
In der Übung des Zazen (Sitz-Meditation) nehmen wir die unheilsamen Gefühle wahr, lassen sie da sein und treten innerlich einen Schritt zurück. Die erste bahnbrechende Einsicht ist zu erkennen, da ist Wut in mir, aber ich bin nicht die Wut. Da ist Trauer in mir, aber ich bin nicht die Trauer. Wut und Trauer sind nur ein Gefühl, sie sind nicht die Wirklichkeit, auch wenn sich das manchmal so anfühlt.
Anhalten, still werden
Indem wir anhalten, still werden und den Atem in den Unterbauch fließen lassen, entziehen wir unheilsamen Gefühlen allmählich die Energie. Wir füllen kein Benzin mehr in den Tank, der Gefühlsmotor fängt an zu stottern und hält irgendwann an. Und plötzlich stehen wir mitten in einer wunderbaren Landschaft. Dieser Weg, unheilsamen Gefühlen den Treibstoff zu entziehen, erfordert langes, intensives Training.
Ein anderer Weg ist, den fruchtbaren Kern der leidverursachenden Gefühle frei zu schälen und die Energie, die jedes Gefühl in sich birgt, auf sanfte und zugleich kraftvolle Weise zu verwandeln. Aus Gier wird Vollständigkeit, aus Angst Mut, aus Trauer Freude. Nicht durch mentale Manipulation, sondern durch die Meditation des Herzens.
Quelle: „Das Leben ist ein Geschenk – Weisheit und Wille als Weg“ – Hinnerk Polenski