Augenblick mal!
Achtsamkeit bedeutet, die eigenen Gedanken auf den Moment, den Augenblick zu konzentrieren. Zahlreichen Studien zufolge fördert dies nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern hilft auch, so manche psychische Leiden zu lindern.
Solche Situationen kennt jeder: Beim Einparken vor dem Bürogebäude bemerken wir, dass wir den Weg zur Arbeit gar nicht bewusst wahrgenommen haben. Am Ende einer Buchseite stellen wir auf einmal fest, dass kein Wort des Gelesenen wirklich bei uns angekommen ist. Oder wir ertappen uns mitten in einem Gespräch dabei, dass wir dem Gegenüber nicht richtig zugehört haben.
In all diesen Momenten sind wir geistig nicht bei der Sache, nicht im Augenblick. Statt uns auf die Wegstrecke, den Buchinhalt oder die Unterhaltung zu konzentrieren, sind wir mit den Gedanken ganz woanders. Ob diese mentalen Abschweifungen uns nun in die Vergangenheit oder die Zukunft führen – wir also über den gestrigen Streit mit dem Nachbarn grübeln oder Pläne für den kommenden Sommerurlaub schmieden –, ob sie hilfreich oder unnütz, angenehm oder lästig sind: Uns entgeht dadurch etwas ganz Besonderes: die Erfahrung des Augenblicks.
Fast die Hälfte unserer wachen Lebenszeit, so haben Psychologen berechnet, sind wir nicht im Augenblick sondern schweifen wir mit unseren Gedanken ungewollt ab. Und das schlägt häufig auf die Stimmung: So geht der chronische psychische Stress, unter dem Millionen Menschen heute leiden, oft damit einher, dass unser Geist in ständigen Grübeleien, Ängste und Sorgen versinkt.
Zudem mindert eine sprunghafte Aufmerksamkeit auch unser Leistungsvermögen. Wenn schnelles und entschiedenes Handeln gefragt ist, kann sie sogar gefährlich werden.
Ein probates Gegenmittel lautet: Achtsamkeit. Das bedeutet, den Moment zu erleben, ohne ihn zu bewerten oder sich gefühlsmäßig davon fortreißen zu lassen. Verschiedene Formen von Achtsamkeitsmeditation gelten in fernöstlichen Kulturen schon seit langer Zeit als ein Weg, menschliches Leid zu überwinden. Ein ganzes Arsenal von Übungen soll die Aufmerksamkeit stärker auf konkrete Wahrnehmungen des Hier und Jetzt – also auf den Augenblich lenken und so zu mehr Klarsicht und Ruhe verhelfen.
Empfindungen können an- und abschwellen
Die so genannte fokussierte Wahrnehmung beinhaltet, sich ausschließlich auf eine bestimmte Sinneswahrnehmung zu konzentrieren, etwa auf die eigene Atmung. Bei anderen Übungen beobachten die Teilnehmer, was in ihr Bewusstsein dringt und es anschließend wieder verlässt, Augenblick für Augenblick. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, wie sich das ferne, langsam vorbeiziehende Heulen eines Martinshorns anhört. Anfangs ist die Sirene noch Teil eines großen Klangteppichs, dann wird sie zum lautesten Geräusch, um schließlich wieder in den Hintergrund zu treten. Gedanken, Gefühle und andere Empfindungen können genauso an- und abschwellen, während wir ihrer gewahr werden. Schon Buddha Siddhartha Gautama (um 563–483 v. Chr.) warb für diese Meditationsform als einen Weg, die Achtsamkeit im Alltag zu steigern.
Es dauerte allerdings bis in die späten 1970er Jahre, bis Psychologen und Mediziner die Achtsamkeit als therapeutisches Werkzeug entdeckten. Damals entwickelte der Biologe Jon Kabat-Zinn von der University of Massachusetts in Worcester ein heute weit verbreitetes Behandlungsprogramm namens achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (kurz: MBSR, von mindfulness-based stress reduction). Das achtwöchige Training legt den Schwerpunkt auf zwei zentrale Aspekte der Achtsamkeit: die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit willentlich auf einen Punkt zu richten, indem wir Ablenkungen ausblenden, sowie die so genannte Meta-Achtsamkeit, bei der wir uns der momentanen Gedanken, Gefühle und Empfindungen gewahr werden, ohne jedoch die Distanz zu ihnen zu verlieren. Das Zusammenspiel von Fokussierung und Gewahrsein verhindert, dass unser Geist ständig umherwandert und sich unserer Kontrolle entzieht.
Laut zahlreichen Studien der letzten zehn Jahre lassen sich mit Achtsamkeits-Meditation und verwandten Techniken verschiedene Krankheitsbilder wie Depressionen, Angstzustände und chronische Schmerzen erfolgreich behandeln.
2011 untersuchten die Psychologen Esben Hougaard und Jacob Piet von der Universität Aarhus (Dänemark) sechs Studien mit insgesamt 593 depressiven Patienten, die eine achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie absolvierten, um ihr Rückfallrisiko zu verringern. Diese spezielle Methode, entwickelt von einem Team der kanadischen University of Toronto um den Psychologen Zindel Segal, folgt dem Modell der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion. Vor allem negative Gedanken, die eine depressive Episode auslösen können, sollen dabei als flüchtig erkannt werden – was es den Betroffenen deutlich erleichtert, sich davon zu distanzieren.
Negative Gedanken verlieren an Kraft
Nach einer solchen Therapie beobachteten die Teilnehmer häufig, wie wechselhaft ihr Gefühlsleben tatsächlich war, und die negativen Gedanken, die es bislang dominiert hatten, verloren mit der Zeit an Kraft. Piet und Hougaard zufolge zeigten Patienten, die vorher mindestens drei schwere depressive Episoden durchlaufen hatten, dank des Achtsamkeitstrainings eine deutlich geringere Rückfallquote als diejenigen, die mit herkömmlichen Therapiemethoden oder einem Placebo behandelt worden waren.
Auch bei anderen psychischen Leiden wie Panikattacken und Phobien können Aufmerksamkeitsübungen helfen. Häufig lindern sie sogar körperliche Beschwerden – vor allem chronische Schmerzen. Weil das Training den psychischen Stress vermindert, kann es den emotionalen Anteil der Pein reduzieren, welcher oftmals die größte Belastung darstellt.
»Achtsamkeitstraining hilft den Übenden zu erkennen, wie wechselhaft ihr Gefühlsleben ist. Negative Gedanken verlieren dabei an Kraft«
So kam MBSR anfangs vor allem bei der Behandlung chronischer Schmerzen zum Einsatz. 1985 nahmen Kabat-Zinn und sein Team 90 Patienten mit diesem Leiden in ihr Achtwochenprogramm auf und maßen die Schmerzintensität, Stimmungswerte sowie Ängste vor und nach der Teilnahme. Die Forscher stellten eine deutliche Abnahme der negativen Symptome fest. Bei den 21 Vergleichspatienten, die mit traditionellen Methoden wie Krankengymnastik und Antidepressiva behandelt worden waren, stellte sich hingegen keine Linderung ein. Überraschenderweise hielt der Effekt der Achtsamkeitsübungen bis zu 15 Monate an; viele Patienten führten diese auch auf eigene Faust fort.
Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass Achtsamkeitstraining Lehrern oder Medizinern mit berufsbedingtem Burnout ebenfalls helfen kann. Die Übungen verringern nicht die Zahl der Stressfaktoren, sie ermöglichen es den Betroffenen aber, diese anders wahrzunehmen und etwa die Freude im Umgang mit Schülern oder Patienten wieder aufleben zu lassen.
Achtsamkeit gegen Einsamkeit
Kann man sogar die Folgen altersbedingter Einsamkeit mit Hilfe von Achtsamkeitsmeditation lindern? 2012 nahmen Psychologen um David Creswell von der Carnegie Mellon University 20 Frauen und Männer im Alter von 55 bis 85 Jahren in einen Achtsamkeits-Kurs auf, während 20 weitere Altersgenossen kein entsprechendes Training erhielten. Wie Creswells Team herausfand, verringerte sich die subjektiv empfundene Einsamkeit unter den Achtsamkeits-Novizen.
Das Gefühl der Einsamkeit hängt nicht unmittelbar von der Menge sozialer Kontakte eines Menschen ab. So mildern Programme, die das soziale Engagement von Senioren fördern, nicht zwangsläufig auch deren Eindruck, allein und von anderen isoliert zu sein. Achtsamkeitstraining wiederum kann der Einsamkeit das Bedrohliche nehmen, indem es den Betroffenen zu erkennen hilft, dass dies auch eine Frage ihrer persönlichen Bewertung ist.
Die seelische Rückenstärkung ging in Creswells Studie zusätzlich mit Veränderungen im Immunsystem einher. Das Training reduzierte die Menge entzündungsfördernder Proteine im Blut, was darauf hindeutet, dass es bei älteren Menschen auch das Risiko für entzündliche Erkrankungen wie Lupus oder rheumatische Arthritis senken könnte. Weiteren Studien zufolge kann Achtsamkeitsmeditation auch Beschwerden wie Schuppenflechte, Neurodermitis, Fibromyalgie oder das Reizdarmsyndrom reduzieren.
Achtsam zu sein, kann möglicherweise sogar die Lebenserwartung erhöhen. So fanden die Psychologin Elissa Epel und ihre Kollegen von der University of California in San Francisco heraus: Menschen, die stärker dazu neigen, geistig abzuschweifen, weisen kürzere Chromosomen-enden – so genannte Telomere – auf als jene, die fester in der Gegenwart verwurzelt sind. Zellen mit kürzeren Telomeren sind weniger teilungsfähig, was ihre Lebensdauer entscheidend begrenzt. Die Forscher schlussfolgern, dass »eine gegenwartsorientierte Geisteshaltung möglicherweise ein gesundes biochemisches Milieu unterstützt, das die Zellen länger leben lässt«.
Ein schärferes Körperbewusstsein
Versuche von Forschern um Catherine Kerr von der Harvard University konnten zeigen, dass die Aufmerksamkeitspraxis auch unser Körperbewusstsein schärft. Dies erklärt vielleicht, wie ein Achtsamkeits-Training den psychologischen Anteil an chronischen Schmerzen verringert. Lernt ein Patient, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Körperregionen zu lenken, kann er Schwankungen seines Empfindens leichter wahrnehmen, so dass die Vorstellung vom Schmerz als monolithisches »Ganzes« zerfällt. Dadurch könnte er weniger belastend erscheinen. Ähnliche Mechanismen spielen bei psychischen und sozialen Stressfaktoren vermutlich ebenfalls eine Rolle. Hier kann die Fokussierung auf den Augenblich dazu führen, dass Anflüge von Traurigkeit oder Einsamkeit nicht so aufs Gemüt drücken.
Vermutlich wirkt Achtsamkeitstraining nicht nur über eine veränderte Aufmerksamkeit. Die Übungen beeinflussen offenbar noch andere Netzwerke im Gehirn. Mehrere Studien deuten zum Beispiel darauf hin, dass Achtsamkeit die geistige Perspektive auf das eigene Ich verschiebt, so dass man seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen wie von außen zu beobachten scheint.
Ein Plädoyer für den Augenblick
Wie auch immer die genauen Mechanismen aussehen mögen: Wem es gelingt, Achtsamkeitsübungen regelmäßig in seinen Alltag einzubinden, kann davon ähnlich profitieren wie von körperlicher Bewegung. Als Mittel gegen Ablenkbarkeit, schlechte Stimmung und Stress können die gedanklichen Workouts, gerichtet auf den jetzigen Moment, den Augenblick, jedermann zu einem gesünderen und erfüllteren Leben verhelfen.
(Quelle: Spektrum Verlag – Gehirn und Geist, 11/2013)