Wirklichkeit einfärben – Nen

Nen - Wie wir Wirklichkeit einfärben. Verschiedene Farbwolken, unterschiedliche Faben, die sich im Wasser ausbreiten.

Wirklichkeit einfärben? Tun wir das? Was wir vor uns sehen, die Geräuschkulisse um uns, die Stimmung im Meeting, das ist doch Wirklichkeit. – Ja, wirklich? Das ist sehr viel weiter von der Wirklichkeit entfernt als uns das bewusst ist.

Was uns in unserem Bewusstseinsprozess am Ende bewusst wird, dass ist bereits nicht mehr die reine Wirklichkeit. Wir haben sie bereits eingefärbt, zurechtgebogen, subjektiviert. Und das hat Auswirkungen: Auf die Art und Weise, wie wir die „Dinge“, die „Welt“ ganz persönlich (eben subjektiv) wahrnehmen. Ganz gleich, ob wir mit offenen Augen durch den Wald laufen, im Dialog mit anderen sind, den Alltag verwirklichen oder uns einfach treiben lassen.

Wie nehmen wir also die Welt wahr? Wie entsteht unsere Wirklichkeit? Welche Konsequenzen hat dies für uns? Und was passiert, wenn wir versuchen, diesen Prozess ein bisschen zu entwirren?

Das Zen hat hier den Begriff des Nen eingeführt, welcher tiefere Einblicke in den Prozess der Wahrnehmung und Bewusstwerdung bietet. Wir werden entwickeln, wie diese uralten Weisheiten erstaunlich praktische Anwendungen in der heutigen Welt haben.

Situationen unverfälschter wahrnehmen

Stell dir vor, du könntest den Lärm der ständigen Gedankenflut für einen Moment abstellen und die Welt um dich herum in ihrer reinen, unverfälschten Form erleben. Genau hier setzen die Nens an, indem sie uns durch den Prozess der Wahrnehmung führen – von der unmittelbaren Erfahrung bis hin zu unserer Reaktion darauf. Für Meditierende bietet dieses Verständnis die Chance, tiefer in die Praxis einzutauchen und einen Zustand der Klarheit zu erreichen, der weit über die Sitzkissen hinausgeht.

Aber was hat das alles mit dem Alltag zu tun? Der Alltag ist geprägt von Schnelllebigkeit, ständigen Veränderungen, Komplexität und Vieldeutigkeit. Könnte da die Fähigkeit, klar und unverfälscht zu sehen, die Umgebung zu erkennen, der Schlüssel sein, um unseren Anforderungen gerecht zu werden? Die Prinzipien der Nens können helfen, klarer zu sehen, authentischer zu sein, bessere Entscheidungen zu treffen und eine tiefere Verbindung zu anderen aufzubauen.

Wirklichkeit einfärben – Was sind Nens?

Nens im Zen, so wie es von Meistern wie Katsuki Sekida dargestellt wird, bieten eine strukturierte Art, die Momente der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins zu verstehen. Die Interaktion zwischen den einzelnen Nens – vom ersten bis zum dritten Nen – beschreibt einen Prozess, der tief in der menschlichen Erfahrung verwurzelt ist. Jedes Nen steht für einen Schritt von der unverfälschten Wahrnehmung bis zum interpretierten und eingefärbten Bewusstsein über diese Situation.

Hier ist eine detailliertere Betrachtung, wie diese Nens die Brücke von der Realität (Wirklichkeit) über die Wahrnehmung bis zur Bewusstwerdung nacheinander ablaufen und interagieren. Dies soll klar machen, wie wir Wirklichkeit einfärben … oder sie möglichst ursprünglich belassen.

Erstes Nen: Der Moment der Wahrnehmung

Das erste Nen repräsentiert den initialen Kontaktmoment mit einem Stimulus, einem Reiz, noch bevor jegliche bewusste Verarbeitung einsetzt. Es ist der reine Akt der Wahrnehmung, frei von Bewertung oder Interpretation. Hier sind wir noch ganz nahe an der Wirklichkeit, so wie sie ist.

In diesem Stadium wird die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt der Realität gelenkt, sei es ein Geräusch, ein visueller Reiz oder eine körperliche Empfindung. Diese unmittelbare Wahrnehmung ist noch nicht von Gedanken oder Emotionen gefärbt.

Beispiel: Wenn ein Vogel singt und du diesen Klang hörst, ist der allererste Moment, in dem du den Gesang wahrnimmst, ohne zu denken „Das ist ein Vogel“ oder „Ich mag diesen Klang“, das erste Nen. Das erste Nen ist in diesem Beispiel nur dieser reine Klang, frei von Konzeptualisierung oder Kategorisierung; es ist die reine Erfahrung selbst.

Zweites Nen: Die kognitive Verarbeitung

Das zweite Nen folgt unmittelbar und umfasst das Erkennen gemeinsam mit der sofortigen Bewertung des wahrgenommenen Reizes. Er wird identifiziert und sofort mit vorhandenen Erfahrungen abgeglichen und eingeordnet. In diesem Moment beginnt das Gehirn, die Erfahrung zu analysieren. Wir sortieren diesen Stimulus in uns bekannte Kategorien ein, verpassen ihm ein Etikett aus unserer bisherigen Erfahrungswelt.

Bereits in diesem Schritt beginnt der Geist, über den wahrgenommenen Stimulus nachzudenken, ihn zu benennen und ihm Bedeutung zuzuweisen. Dies können bewusste Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle einbeziehen, die durch die Wahrnehmung ausgelöst werden. Das heißt, wir verbinden diese Wahrnehmung mit schon einmal gemachten Erfahrungen aus unserem Erinnerungsarchiv, färben die Wirklichkeit ein.

Beispiel: Nachdem du den Vogelgesang gehört hast, denkst du „Das ist ein Vogel“, erinnerst dich vielleicht an ähnliche Momente oder empfindest Freude über die Schönheit des Klangs.

Drittes Nen: Die Reaktion

Und das dritte Nen bezieht sich auf die Reaktion oder Antwort, die auf die vorangegangene Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung folgt. Es kann sowohl interne Reaktionen (Gedanken, Emotionen) als auch externe Aktionen (gesprochene Worte, körperliche Handlungen) umfassen.

Dieses Stadium involviert eine bewusstere Auswahl, wie auf die ursprüngliche Wahrnehmung und die darauffolgenden Gedanken und Gefühle reagiert wird. Es kann eine Entscheidung, eine Handlung oder eine tiefere Reflexion über die Erfahrung beinhalten.

Im Beispiel: Als Antwort auf den Vogelgesang entscheidest du dich vielleicht, einen Moment innezuhalten und die Schönheit der Natur zu schätzen. Oder du beschließt, jemandem von dieser Erfahrung zu erzählen. Sehr wahrscheinlich verbindest du diese Erfahrung auch mit früheren Momenten, als du Ähnliches erlebt hast, welches du mit der jetzigen Situation verbindest. Vielleicht ein früherer Frühlingsspaziergang.

Interaktion zwischen den Nens

Die drei Nens sind in einem fließenden, kontinuierlichen Prozess mit sehr schneller Abfolge – oft nur Sekundenbruchteile – miteinander verbunden. Das erste Nen führt nahtlos zum zweiten, in dem die unmittelbare Wahrnehmung in den Kontext des individuellen Bewusstseins und der Erfahrung gestellt wird. Das zweite Nen wiederum bildet die Basis für das dritte Nen, in dem bewusste Entscheidungen über Reaktionen und Handlungen getroffen werden.

Und der Dynamik noch nicht genug: Dritte Nens können wiederum die Quelle weiterer erster Nens sein. Diese Interaktion unterstreicht die Dynamik des Bewusstseinsprozesses und bietet Einsichten in die Funktionsweise des menschlichen Geistes.

Möglichkeiten für mehr Klarheit

Im dritten Nen ist die ursprüngliche reine Wirklichkeit der Situation bereits um ältere Erfahrungen, Erinnerungen, Emotionen, Gedanken und vor allem Bewertungen ergänzt. Wir haben die Wirklichkeit eingefärbt. Diese Einfärbung entfernt von der ursprünglichen Wirklichkeit. Je mehr das geschieht, desto weiter weg sind wir von der wirklichen Wirklichkeit.

Es gibt eine Möglichkeit, ein „Instrument“, wie wir den Prozess verlangsamen oder auseinanderziehen können. Das ist Meditation. In der Meditation versuchen wir uns dieser automatisierten Übergänge von einem Nen zum nächsten bewusst zu werden. Und die Möglichkeit zu schaffen, in jedem Moment präsent und vollständig bewusst zu sein.

Durch das Verständnis und die Praxis, diese Nens bewusst zu erleben und zu steuern, kann man lernen, im gegenwärtigen Moment präsenter zu sein und eine tiefere Verbindung zur eigenen Erfahrung und Umgebung zu entwickeln. Es ermöglicht auch eine gewisse Distanz zu automatischen Gedanken und Reaktionen, was zu größerer Klarheit, Gelassenheit und bewussterer Reaktionen führt. Kaum zu unterschätzende Qualitäten.

Erkennen, was ist

Durch die Praxis kann man lernen, den Moment der reinen Wahrnehmung (erstes Nen) zu verlängern und die reaktiven Gedanken und Emotionen, die im dritten Nen auftreten, bewusster zu gestalten. Oder zumindest mitzubekommen, was wir der ursprünglichen, reinen, unverfälschten Wahrnehmung hinzufügen oder weglassen. Meditierende lernen, den Raum zwischen diesen Phasen zu erkennen und zu erweitern. Das führt dazu, Verzerrungen zu erkennen, diese zu reduzieren und automatisierte Reaktionen durch bewusstes Handeln zu ersetzen.

Meditation übt darin, sehr viel näher an der Wirklichkeit zu sein. Zen bedeutet: Erkennen, was ist. Und eben nicht sich selbst einzulullen mit Bewertungen und Verfärbungen. Erkennen, was ist. Das ist es, was den Unterschied macht.

 

[Eine um neuro-physiologische Aspekte, Aufmerksamkeits-Netzwerke und die Auswirkung eingefärbter Wahrnehmung und der Nens auf Führung / Leadership     
findet sich hier.
]

 

Literatur:

Katsuki SEKIDA: Zen-Training | Praxis, Methoden, Hintergründe

Wolfgang SAUER (2024): MENTALTRAINING und MEDITATION | Schnittmengen, Abgrenzungen und Rückkopplungen

 

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