Qualität von Bewusstsein, davon handelt ein Textauszug aus Tara Brachs Buch „Wahre Zuflucht“ (der englische Titel: „True Refuge: Finding Peace & Freedom in Your Own Awakened Heart“), der mir vor einiger Zeit begegnete und den ich heute wieder las. Es sind die wenigen Sätze, in denen Tara Brach diese tiefe Erkenntnis formulieren kann. Sie beschreibt 3 Qualitäten von Bewusstsein bzw. Gewahrsein.
„Wer bin ich?“ – „Was ist Wirklichkeit?“
Als sich Siddhartha Gautama (der zukünftige Buddha) vor etwa 2.600 Jahren unter den Bodhi-Baum setzte – so die überlieferten Erzählungen –, war er entschlossen, seine wahre Natur zu erkennen. Siddhartha hatte ein tiefes Interesse an der Wahrheit, und die Fragen „Wer bin ich?“ und „Was ist die Wirklichkeit?“ zwangen ihn, noch tiefer nach innen zu schauen und sein eigenes Bewusstsein zu erhellen.
Wir können lange mit dem Verstand nach Antworten auf diese Fragen suchen. Und die Menschheit tut dies auch sehr eifrig, nicht erst seit der Zeit der Aufklärung. Philosophen und Naturwissenschaftler haben dazu viel hervorgebracht, Bibliotheken gefüllt und gedankliche Konzepte entwickelt. Sind wir den Antworten dadurch näher gekommen? – Letztendlich tappen wir doch noch ziemlich im Dunklen, oder?
Ich bin ein Zen Mönch – aber kein toter …
Eine kleine Zen Geschichte bringt den Versuch der analytischen oder theoretischen Suche nach diesen essentiellen Fragen auf den Punkt:
Eines Tages fragt ein junger Schüler den Abt des Klosters: „Was passiert nach unserem Tod? Der ehrwürdige alte Mönch antwortet: „Ich weiß es nicht“. Enttäuscht sagt der Novize: „Aber ich dachte, Du bist ein weiser Zen-Mönch.“ „Das bin ich, aber kein toter!“ Die mächtigsten Fragen lenken unsere Aufmerksamkeit auf genau diesen Moment.
Den Geist zur Ruhe bringen
Um diese gleiche Art der vom Buddha inspirierten Selbstbefragung zu praktizieren, können wir den Geist zur Ruhe bringen und fragen: „Wer bin ich?“ oder „Wer ist sich hier gerade bewusst?“ oder „Wer liest gerade diese Zeilen?“.
Vielleicht ist dann Deine spontane und von großer Selbstverständlichkeit geprägte Antwort: „ICH!“ – Gut. Damit ist lediglich ein Platzhalter als Antwort gesetzt. Wer ist dieses ICH?
Anstelle einer (vor)schnellen Antwort können wir versuchen sanft ins Bewusstsein einzutauchen, um zu sehen, was wahr ist. Letztendlich stellen wir fest, dass es für den Verstand keine Möglichkeit gibt, die Frage zu beantworten. Wir stoßen mit dem rationalen Verstand an die Grenzen dessen, wie und was wir selbst über uns erkennen.
Den suchenden Geist auflösen
Es geht einfach darum, zu schauen und dann in das Nichts zu gehen, das hier ist. Die Frage „Wer bin ich?“ soll den suchenden Geist auflösen.
Doch wie Du bei dem Versuch vielleicht feststellst, geschieht dies nicht sofort. Zuerst finden wir alle möglichen Dinge, für die wir uns halten. Alle unsere Gefühle und Gedankenmuster, unsere Erinnerungen, die Geschichten, die wir uns darüber erzählen, wer wir vermeintlich sind und wie wir uns selbst als solche empfinden. Sind das wirklich wir? – Bin das wirklich ich?
Unsere Aufmerksamkeit fixiert sich immer wieder auf Elemente des Vordergrundes. Vielleicht haben wir mit einem Gefühl Kontakt aufgenommen. Aber wir fragen immer wieder nach. „Wer fühlt das?“ Oder: „Wer ist sich dessen bewusst?“ Und je mehr wir auf eine Antwort aus sind, desto weniger finden wir, auf dem wir sicher landen können.
Letztendlich bringen uns die Fragen zum Schweigen. Es gibt keine Rückschritte mehr. Wir können nicht mehr antworten.
Leere oder Offenheit – die erste Qualität des Bewusstseins
Die Entdeckung des Nichts ist nach den Lehren des tibetischen Buddhismus „das höchste Sehen“. Sie offenbart die erste grundlegende Qualität des Bewusstseins: Leere oder Offenheit. Das Bewusstsein ist frei von jeder Form, von jedem Zentrum oder jeder Grenze, von jedem Besitzer oder inneren Selbst, von jeder Beständigkeit.
Erwachen oder Erkenntnis – die zweite Qualität des Bewusstseins
Doch unsere Untersuchung zeigt auch, dass das Bewusstsein, obwohl es leer von „Dingen“ ist, von der Wachheit lebt – einer Leuchtkraft des kontinuierlichen Wissens.
Rumi drückt es so aus: „Du betrachtest das Licht mit den eigenen alterslosen Augen.“ Klänge, Formen, Farben und Empfindungen werden spontan erkannt. Der gesamte Fluss der Erfahrung wird durch das Bewusstsein empfangen und erkannt. Dies ist die zweite grundlegende Qualität des Gewahrseins: das Erwachen oder die Erkenntnis.
Liebe oder Mitgefühl – die dritte Qualität des Bewusstseins
Wenn wir loslassen und in dieser wachsamen Offenheit ruhen, entdecken wir, wie sich das Gewahrsein auf die Form bezieht: Wenn etwas in den Verstand kommt – eine Person, eine Situation, eine Emotion – so ist die spontane Reaktion Wärme oder Zuneigung.
Dies ist die dritte Qualität des Gewahrseins: der Ausdruck bedingungsloser Liebe oder Mitgefühl. Die tibetischen Buddhisten nennen dies die „uneingeschränkte Fähigkeit des Gewahrseins“, und sie schließt Freude, Wertschätzung und die vielen anderen Qualitäten des Herzens ein.
Als Siddhartha in seinen eigenen Geist schaute, erkannte er die Schönheit und Güte seiner essentiellen Natur … und war frei. Die drei grundlegenden Qualitäten unseres Seins – Offenheit/Leere, Wachheit und Liebe – sind immer da.
Ich bin der Geist, der sich selbst durch eine menschliche Verkörperung entdeckt
Nach und nach können auch wir erkennen, dass dieses wache, zärtliche Gewahrsein wahrhaftiger ist als jede Geschichte, jedes Konzept, jede Theorie, die wir über uns selbst hervorgebracht haben. Anstatt ein Mensch auf einem spirituellen Weg zu sein, sind wir der Geist, der sich selbst durch eine menschliche Verkörperung entdeckt. Wenn wir dies verstehen und darauf vertrauen, erfüllt sich unser Leben mit zunehmender Gnade.
Tiefe Gedanken von Tara Brach, oder?