Spüren, dieses Wort steht für den Ausgangspunkt von Erkenntnis. Eine Erkenntnis aus dem Körper, aus körperlicher Wahrnehmung heraus. Spüren steht damit dem kognitiven Erkenntnisgewinn, dem Denken, gegenüber.
Die Wortbedeutung hat sich über die Jahrhunderte verändert. Ganz ursprünglich, etwa im 8. Jahrhundert bedeutete spüren („spurren“ und „spurien“) der Spur des Wildes nachgehen, eine Spur aufnehmen und ihr folgen. Daraus entwickelte sich dann spüren in der Bedeutung von aufsuchen und erst sehr viel später wahrnehmen, empfinden oder fühlen. Im englischen steht dafür sensing.
Spüren – eine Spur aufnehmen
Bleibe ich beim Spüren im Sinne von wahrnehmen, dann ist das etwa wie mit einem Fotoapparat einen Schnappschuss machen. Spüren ist dann eine Momentaufnahme, das Wahrnehmen, wie jetzt gerade ist.
Anders beim Spüren in der Bedeutung von eine Spur aufnehmen und folgen. Hier ist Spüren ein Ausgangspunkt. Was macht diese oder jene Wahrnehmung genau aus? Wo oder was ist die Quelle? Was geschieht, wenn ich dieser Spur folge, die Wahrnehmung tiefer und weiter werden lasse? Steht am Ende der Spur vielleicht ein Erkennen? Jetzt ist das Spüren eher vergleichbar mit einer schwenkbaren Filmkamera, fähig zum Verändern der Perspektive, eventuelle noch mit einer Zoom-Funktion.
Kein Spüren ohne Körper
Beim Denken, dem denkenden Erkennen spielt der kognitive Geist die entscheidende Rolle. René Descartes erhob das Denken gar zur Voraussetzung des Seins („Ich denke, also bin ich.“). Das hat dann sehr die nächsten 350 Jahre geprägt, bis heute.
Der Körper heute spielt oft eine untergeordnete Rolle. Das Denken findet im Geist statt. Der Körper ist so etwas wie das Etui, in welchem unser denkender Geist transportiert wird. Oder er muss als Projektionsfläche herhalten für den Ausdruck von Schönheit, Attraktivität oder Fitness. Aber der Körper als Erkenntnisorgan?
Jede Wahrnehmung geht von den Sinnen aus. Das ist zutiefst körperlich. Ohne Körper keine Wahrnehmung. Es ist der Körper, der uns spüren, fühlen, erkennen lässt, wie wir in der Welt stehen und uns darin bewegen.
Betrachten wir wiederum die Sprache, dann finden wir dies in Wörtern wie „Spürsinn“ oder „Spürgewahrsein“. Beides ist begrifflich sehr eng mit Intuition und entdecken oder erkennen verbunden. Man könnte also Descartes‘ „Ich denke, also bin ich“ auch ein „Ich spüre, also bin ich“ entgegensetzen.
Keine Wahrnehmung ohne Aufmerksamkeit
Wir nehmen nur das wahr, wo unsere Aufmerksamkeit ist. Aufmerksamkeit und Wahrnehmung hängen eng zusammen. Ebenso wie Wahrnehmung und der jetzige Augenblick. Es ist nicht möglich gestern etwas wahrzunehmen. Oder in zwei Wochen. Wahrnehmung ist an den Augenblick gebunden. Und an das, worauf oder wohin wir Aufmerksamkeit richten.
George Gurdjieff, ein in Russland geborener Philosoph und Mystiker mit armenisch-griechischen Wurzeln schrieb dazu:
„Aufmerksamkeit ist eine Kraft – und eine Energie und ein Geheimnis. Als eine Kraft erweckt die Aufmerksamkeit, wenn sie nach innen gerichtet ist, in uns ein ‚Spüren‘ – eine feinfühlige Energie. Dieser einfache Akt des ‚Spürens‘ ist grundlegend für das Erbe der menschlichen Entwicklungstraditionen. Sensing ist das Spüren der Lebenskraft als lebendige Gegenwart.
Das Bewusstsein ruft mich auf, ich selbst zu sein. Ich selbst zu sein, beginnt mit Selbstkenntnis. Selbstkenntnis beginnt mit der Arbeit an mir selbst. Die Arbeit an mir selbst basiert auf der Wahrnehmung meiner selbst.
Von allen Eindrücken, die wir von unserem Innenleben haben, ist die körperliche Empfindung zweifellos das, was uns am unmittelbarsten zugänglich ist, am ‚konkretesten‘ und am wenigsten der trügerischen Einbildung unterworfen. Körperliche Empfindungen zu erkennen ist einfach: die Empfindung von uns selbst ist da oder nicht da, je nachdem, ob wir uns selbst zugewandt oder nach außen gerichtet sind. Und deshalb kann sie als einer der besten Tests für die Überprüfung der Realität, der Bemühungen um Selbst-Bewusstsein – das Bewusstsein über uns selbst – angesehen werden.
Wenn wir unseren Körper studieren wollen, oder zumindest damit beginnen wollen, müssen wir zuallererst mit ihm in Beziehung stehen. Was uns mit dem Körper in Beziehung setzt, ist die Empfindung, die wir von ihm haben – die innere Wahrnehmung unseres körperlichen Seins, die körperliche Empfindung unserer selbst. Aber die Empfindung hat eine noch größere Bedeutung, denn wenn es unser Ziel ist, schließlich eine stabile Präsenz in uns selbst zu entwickeln, ist die Empfindung unseres körperlichen Seins ein innewohnender Bestandteil davon. Es ist der konkreteste und am leichtesten kontrollierbare Teil.“
Spüren in der Meditation
Das gilt auch, man könnte sagen ganz besonders, in der Meditation. Meditation ist kein rein geistiger Prozess. Meditation ist zutiefst körperlich, auch wenn wir versuchen, uns nicht dabei zu bewegen.
Der Körper ist nie still – er ist ein atmendes, lebendiges „Ich“. Wenn wir davon sprechen, beim Meditieren still zu werden, meinen wir das nicht buchstäblich, sondern nur im Vergleich zu der Art, wie wir gewöhnlich sind. Wir lassen es zu, dass der Körper zur Ruhe kommt und sich niederlässt. Doch je mehr das geschieht, desto bewusster werden wir der feinen Empfindungen und Bewegungen, die jederzeit im Körper geschehen.
Besonders spürbar ist, dass wir atmen. Wenn der Körper ausgerichtet und entspannt ist, bemerken wir, dass wir uns leicht gewahr werden können, wie er stets auf unseren Atem antwortet. Wenn wir wirklich entspannt und aufmerksam sind, spüren wir vielleicht, wie das geschieht und wir empfinden die ganz kleinen körperlichen Anpassungen dabei.
Vielleicht werden wir uns des Atems an der Bauchdecke oder auch im Rücken gewahr, bis in die Achselhöhlen hinein. Manchmal können wir sogar das Gefühl haben, dass der gesamte Körper von den Füßen bis zum Scheitel auf den Atem antwortet. Das ist mehr ein Empfinden von Bewegung als eine ausgreifende, tatsächliche körperliche Bewegung. Und es ist spürbar.
Spürsinn und Gewahrsein
Sinn und Zweck dieser Idee von Lebendigkeit in uns, ist uns anzuregen, uns feiner als gewöhnlich in den Körper einzuschwingen. Eine ideale Gelegenheit dazu bietet sich, wenn man ruhig in einer offenen und entspannten Haltung sitzt.
Einen Spürsinn für die innere Energie des Körpers zu haben, ist äußerst hilfreich. Wir entwickeln ihn, indem wir zu bemerken beginnen, was jetzt schon geschieht. Versuchen wir nicht, Gewahrsein zu erzwingen. Sondern werden bloß für dessen Erleben empfänglich, wie es sich von einem Moment zum nächsten, Atemzug um Atemzug vollzieht. Lauschen wir auf den Körper; nehmen wir eher eine empfängliche Haltung ein, als Vorstellungen darüber aufzustülpen, wie er sich anfühlen sollte. Bemerken wir einfach, was das da ist …