Die Ästhetik des Unperfekten scheint aus der Zeit gefallen, nicht aktuell, gegen den Mainstream. Das Perfekte hat Konjunktur. Bilder werden nachbearbeitet. Kleinste Unebenheiten im Gesicht retuschiert bis es (vermeintlich) perfekt aussieht.
In Casting-Shows wird an Kandidaten – meist junge Menschen – solange herumkritisiert und herumkorrigiert, bis sie einem (nochmals vermeintlich) „perfekten“ Idealbild nahe kommen.
Lebensläufe von Bewerbern um einen Job oder eine Ausbildungsstelle sollen ebenfalls möglichst perfekt sein. Also geradlinig, auf ein Ziel hin orientiert, ohne Brüche im Leben, Lücken, „falschen“ Abbiegungen.
Alles sollte perfekt sein. Dann ist es richtig, dann ist es gut. Das ist aber sowohl Illusion als auch ein nicht Achten der Realität. In der Ästhetik des Unperfekten liegt die große Chance das zu erkennen, was die Dinge – und auch die Menschen – ausmacht.
Nichts ist wirklich perfekt. Und da entsteht die Möglichkeit Interessantes zu entdecken, eine Geschichte dahinter, gesammelte Erfahrungen und das Potenzial für Veränderung.
Das erinnert mich an die Liedzeile in Leonhard Cohens „Anthem“:
There is a crack in everything, that’s how the light gets in. /
Da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt
Erst durch den Riss, das nicht Perfekte, entsteht die Möglichkeit tiefer zu gehen, Neues zu erfahren. Und es geht dabei nicht nur um Dinge. Es geht dabei auch um die kleinen und größeren „Risse“ in uns, die das „Licht“ hinein lassen.
Die Kraft der Ästhetik des Unperfekten
Im Trend des Strebens nach Perfektionismus liefert die Ästhetik des Unperfekten eine wohltuende Gegenkraft. Diese verbindet uns mit dem, was wirklich ist und holt uns zurück aus einer Illusion, die uns von vielem und letztendlich von uns selbst entfernt. Und diese Ästhetik ist nicht neu. Sie findet sich als lange Haltung im Zen und hat dort den Namen Wabi-Sabi.
Wabi-Sabi – Eine Haltung im Zen
Im Japan des 16. Jahrhunderts gab es eine vergleichbare Entwicklung. Der Adel und hohe Würdenträger trafen sich in prunkvollen und mit allem erdenklichen Luxus ausgestatteten, extra dafür erbauten Teehäusern. Die Einrichtung war exquisit, vom Feinsten und die Teetassen aus dem kunstfertigsten Porzellan.
Zen-Mönche schufen eine Gegenentwicklung gegen dieses Zurschaustellen mit der Weiterentwicklung der Teezeremonie, die noch heute eine wichtige Bedeutung im Zen hat. Sie nutzten bewusst abgenutztes Teegeschirr mit deutlichen Gebrauchsspuren, mit Makeln.
Die Schlichtheit wurde in den Vordergrund gestellt, um den Fokus wieder auf das Innere, auf Harmonie und Gelassenheit, auf die natürliche Schönheit, auf Demut und auch auf die Vergänglichkeit der Dinge zu richten.
Die Einfachheit, Bescheidenheit, die Einzigartigkeit, die durch den Makel entsteht und den vergänglichen Augenblick wurden ins Zentrum gestellt. Die Haltung dahinter wird im Zen Wabi-Sabi gennant.
Eine kleine Begebenheit verdeutlicht diese Haltung sehr schön:
Rikyu wollte die Kunst des Teegebens – den Tee-Weg (chado) – erlernen und bat den Teemeister Joo um die Ausbildung. Meister Joo stellte ihm zuerst eine Aufgabe. Er solle den Garten säubern und in Ordnung bringen.
Rikyu macht sich sofort an die Arbeit. Er räumte auf, machte sauber und rechte alle Wege und Flächen so penibel, bis der Garten und der Boden in perfekter Ordnung waren.
Als er alle diese Arbeit beendet hatte, hielt er inne und betrachtete alles. – Dann ging er zu einem blühenden Kirschbaum und schüttelt diesen leicht, so dass einige Blüten auf die perfekt von allem Laub und kleinen Ästen befreiten und akkurat gerechten Wege fielen. Jetzt erst war er mit der nun natürlichen Schönheit zufrieden.
Teemeister Joo nahm daraufhin Rikyo in seine Schule auf. Rikyo wurde der bedeutendste Teemeister und sein Einfluss auf die Tee-Zeremonie im Zen dauert bis heute an.
Wabi-Sabi – die Ästhetik des Unperfekten heute
„Wabi-sabi ist eine intuitive Wahrnehmung einer vergänglichen Schönheit in der physischen Welt, die den irreversiblen Fluss des Lebens in der spirituellen Welt widerspiegelt.
Es ist eine unauffällige Schönheit, die in der bescheidenen, rustikalen, unvollkommenen oder gar verfallenen Form existiert. Eine ästhetische Sensibilität, die in der Unbeständigkeit aller Dinge eine melancholische Schönheit findet.“ (Andrew Jupiter)
Die Haltung des Wabi-Sabi ist heute noch aktuell. Eine Besinnung darauf lässt unseren Alltag, speziell den Alltag in unserer Arbeitswelt, neu überdenken. Diese Gedanken fließen bereits in Konzepte der Gestaltung von Büros und anderen Räumen unserer Arbeitswelt ein.
Dazu ist mir ein Text – und auch der Autor selbst in einem sehr inspirierenden Gespräch – begegnet, welcher der Anlass für diesen Beitrag war:
Achtsamkeit ist die Wurzel eines jeden Innovationsprozesses
Achtsamkeit ist die Wurzel eines jeden Innovationsprozesses. Ohne Achtsamkeit ist Kreativität unmöglich. Denn nur, wenn Menschen sich in Achtsamkeit begegnen, können sie wahrnehmen, was ist. Nur wenn sie achtsam miteinander umgehen, können sie in einen tiefen, schöpferischen Dialog finden.
Der Raum kann sie darin unterstützen und fördern. „Man kann einen Raum so konfigurieren, dass die Menschen darin achtsamer dafür sind, was bei ihrer Arbeit am wichtigsten ist. Man kann sogar ein physisches Objekt ihrer Arbeit sichtbar machen“, sagen Henn und Allen.
Nichts ist der gemeinsamen kreativen Arbeit so hinderlich wie Ablenkung. „Das Gehirn neigt dazu, ständig hin- und herzuspringen“, erläutert Neurowissenschaftler Henning Beck. „Es ist nicht darauf ausgelegt, sich lange zu konzentrieren. Daher sind Ablenkungen auch so verführerisch.“
Deshalb fordert er Büroeinrichtungen, die ein unabgelenktes Arbeiten erlauben. Wie so etwas geht, lehrt etwa die japanische Philosophie des Wabi-Sabi. Ihr Kernsatz lautet:
„Beschränke alles auf das Wesentliche, aber entferne nicht die Poesie. Halte die Dinge sauber und unbelastet, aber lasse sie nicht steril werden.“
Das ist etwas anderes als die Clean-Desk-Policy, die in vielen Unternehmen derzeit Konjunktur hat, weil man sich von ihr eine Effzienzsteigerung erwartet. Wabi-Sabi ist mehr als ein aufgeräumter Schreibtisch – und es geht dabei nicht um Effizienzsteigerung, sondern um effektives, schöpferisches, achtsames Arbeiten.
Dies erfordert gerade nicht einen gleichgültigen Umgang mit Arbeitsmaterialien und Arbeitsplätzen, sondern das genaue Gegenteil: eine hohe Wertschätzung der Dinge. Der Autor Matthias Dietz erklärt dies wie folgt:
„Die Dinge verlieren durch Wabi-Sabi ihren Funktionswert und gewinnen ihren Eigenwert. Aus diesem Grundwerden nur einfachste, natürliche Materialien benutzt. Sie dürfen weder verziert noch vor Abnutzung oder Korrosion geschützt werden.
Der sichtbar werdende Verfall der Gegenstände wird als deren besondere Schönheit gesehen. Sie sind Teil eines Werdens und Vergehens – unvollständig und unvollkommen.“
Achtsamkeit für das Physische und die Materialität der Arbeitsumgebung ist eine wichtige Voraussetzung für kreatives Arbeiten im Team. Sie unterbindet das geläufige „Husch-Husch“ gedankenloser Abläufe und erfüllt die beteiligten Menschen mit einem Empfinden von Sinn und Schönheit. In durch Wabi-Sabi abgestimmten Räumen gedeiht eine schöpferische Atmosphäre.
Quelle: Jan Teunen und Christoph Quarch in: „Officina Humana“
Wenn Ihr Euch in Euren Arbeitsräumen, Büros und Praxen umschaut. Wie sieht es dort aus? Wie sind diese gestaltet? Was macht das mit Euch?