Sorgen – Wir kennen die Geschichte noch nicht

Sorgen
Sorgen – Wir kennen die Geschichte noch nicht

Sorgen und Ängste drängen sich sehr oft in unsere Gedanken. Nicht nur – zum Glück. Da gibt es auch Zuversicht, Freude, Gelassenheit. Sorgen und Ängste haben eine Schutzfunktion, wollen uns warnen und vorsichtig machen. Gelegentlich – und oftmals auch weit darüber hinaus – bestimmen sie aber unsere Sicht auf das, was vor uns liegt.

Sorgen sind absurd

Der taoistische Weise Wei Po Yang sagte einmal: „Sorgen sind absurd … wir wissen nicht genug, um uns Sorgen zu machen“. Dennoch machen wir uns während eines Großteils unseres Lebens, fast ständig, Sorgen um die Zukunft. Eine Zukunft, die ihrerseits auf einer erinnerten Vergangenheit beruht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit als inneres Navigationsgerät nutzen, das uns hilft, uns in einer konkreten Situation in der Gegenwart zu orientieren.

Wenn man diesem inneren Navigationssystem vertraut, dann verfängt man sich sehr schnell in den Geschichten, die der Verstand in Bezug auf diese Situation kreiert, sich zusammenspinnt. Natürlich stimmen diese vom Verstand erzählte Geschichten und das, was wirklich passiert, die tatsächliche Erfahrung, wenn sie schließlich eintritt (… und falls sie jemals eintritt), nie ganz überein.

Es ist nicht möglich, eine fiktionale Geschichte über ein wirkliches, nicht-fiktionales Leben zu schreiben. Vor allem wenn man keine Ahnung hat, wie sie sich entwickeln wird. Wir haben offensichtlich noch nicht genug Informationen, um zu wissen, wie eine Geschichte endet.

Die Weisheit des Augenblicks

Dennoch besteht unser Verstand darauf, dass er genau weiß, was heute, morgen, nächste Woche, nächstes Jahr und so weiter passieren wird. Auch wenn gewöhnlich ganz andere Ereignisse eintreten, besteht unser Verstand darauf, die Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern sie auch zu glauben. Wie Mark Twain sagte: „Mein Leben war eine schreckliche Serie von Katastrophen, von denen einige tatsächlich passiert sind“.

Wenn die Situation endet und man im Nachhinein sieht, dass alles in Ordnung ist (oder sich sogar zum Besten entwickelt hat), dann haben wir ein wenig Weisheit erlangt.

Aber kann es möglich sein, die Weisheit dieses Rückblicks in einer Situation des konkreten Augenblicks zu haben? Das ist möglich. Es erfordert etwas Übung, weil der menschliche Verstand normalerweise nicht auf diese Weise verkabelt ist.

Strategien für weniger Sorgen

Eine Strategie für weniger Sorgen besteht darin, sich an zwei Dinge zu erinnern:

1) Unsere Sorgen und Ängste sind immer zukunftsorientiert. Es ist unser Verstand, der eine Geschichte über etwas erschafft, das noch nicht geschehen ist und wahrscheinlich nie geschehen wird. Und …

2) Wir kennen noch nicht die ganze Geschichte, weil wir nicht genug Informationen über die Zukunft haben – haben können. Dann kann man aus diesem Mechanismus heraustreten, indem man sich mit irgendeiner Sinneserfahrung verbindet. Sinneserfahrungen, das ureigene Wahrnehmen mit und durch unsere Sinne, geschehen immer (immer nur!) im gegenwärtigen Moment.

Sei es das Spüren des Atmens im Körper. Das Wahrnehmen eines sanften, warmen Sommerwindes auf der Haut. Das Sehen der vorbeiziehenden Wolkenformationen. Das Hören der Vögel im Baum. Der Geschmack beim Essen und Trinken oder das Riechen an einer duftenden Rose.

Wenn man sich mit einem Sinnesobjekt des gegenwärtigen Augenblicks verbindet, schaltet sich automatisch der kreisende, wiederkäuende Verstand aus, der darauf besteht, Geschichten auszuspinnen.

Die unmittelbare Betroffenheit im Moment

Oder man steht am Strand, und plötzlich scheint aus den Wolken der Mond hervor. Alles ist in lichtem Silber, eine kleine Welle bricht sich sanft und hell im Kies, Steinchen klackern. Eine Sekunde der Stille, niemand ist mehr da.

Das dauert ein Möwenflügelschlag lang, vielleicht nur eine Sekunde. Natürlich strömen dann sofort unendlich viele Gefühle ein: Festhalten, Gier, Furcht, Sorgen, Traurigkeit, Freude, Besitz, … alles Mögliche.

Diese kurze Erfahrung des einen Moments, die Unschuld des einen Augenblicks ist relativ schnell weg.

„Für einen Moment bin ich berührt, und diese unmittelbare Betroffenheit, das ist Zen.“ (Hinnerk Polenski)

Wir Menschen erleben diese unmittelbare Betroffenheit, wenn wir zum Beispiel einen anderen Menschen ganz aufrichtig lieben ohne zu hinterfragen, ob unsere Liebe erwidert wird. Wir erleben sie, wenn wir eine Aufgabe oder eine Tätigkeit mit totaler Hingabe ausüben, ganz im Flow versinken. Auch dann gibt es solche Momente der absoluten Betroffenheit, der absoluten Unschuld.

Dieses Unmittelbare ist eine Art Instanz der Wirklichkeit. Im Chaos des normalen Lebens wird uns diese Instanz immer eine Idee, eine Eingebung geben, um einen Lichtblick zu erleben. Diese Instanz wird so zu einer Linie im Chaos. Man kann auch sagen, es ist eine Art Orientierung, ein roter Faden, der dich durchs Leben führt. Wirkliche Orientierung, anstatt Pseudo-Navigationssystem.

Aus dem Augenblick die Zukunft entfalten

Wenn wir in der Lage sind, uns im gegenwärtigen Augenblick  mit unseren Sinnen, mit unserem Körper zu verbinden, uns zu erden, dann werden wir weniger von der verstandesmäßigen imaginierten Zukunft tyrannisiert, die auf einer erinnerten Vergangenheit basiert. Wir können lernen, weniger ängstlich und sorgenvoll zu werden, indem wir mehr in der Realität dieses Augenblicks verweilen, statt in der Nicht-Realität unserer Gedanken. Wir wissen immer noch nicht, wie die Geschichte endet, aber wir fühlen uns wohler, wenn wir zusehen, wie sie sich entfaltet.

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2 Antworten zu Sorgen – Wir kennen die Geschichte noch nicht

  1. Ich stimme dem Artikel und einigen Sätzen hier zu, Sie verfassen den Satz gut, ich verstehe, was Sie meinen, dies wird eine Meinung in mir aufbauen, weil mich dieser Artikel an etwas in der Vergangenheit in meinem Leben erinnert. Vielen Dank für diese tollen Artikel.

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