Der Wille versetzt bekanntlich Berge. Willenskraft, gepaart mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit, kann Wunder bewirken. In Extremsituationen wachsen wir manchmal über uns hinaus und reiben uns verwundert die Augen, weil da plötzlich eine Kraft in uns ist, von der wir vorher nichts wussten, weil uns etwas gelingt, das wir lange nicht für möglich hielten. Das ist wunderbar.
Mit dem Kopf durch die Wand
Doch wenn der Wille sich verselbständigt, vom Körper und den tieferen Bedürfnissen abkoppelt, wird es gefährlich. Wer schon einmal auf „Teufel komm raus“ mit dem Kopf durch die Wand wollte, weiß, dass das wehtut. Denn die Wand ist immer stärker als der Kopf. Danach schmerzt nicht nur der eigene Schädel. Auch andere tragen Blessuren davon. Zurück bleibt ein schmerzhaftes Gefühl von Scheitern, oft auch Scham.
Wille und Willenskraft im ZEN
Der Wille, von dem im ZEN die Rede ist, hat mit Willenskraft zu tun. Am Anfang, wenn wir uns entscheiden, den Weg nach innen zu gehen, brauchen wir diese Kraft, um den tausend Ablenkungen zu widerstehen, unseren Meditationsplatz anzusteuern und dort sitzen zu bleiben.
Auch wenn die Nase juckt, Langeweile aufkommt, Gedanken uns in die Zukunft oder Vergangenheit katapultieren oder Tränen in Strömen fließen. Sitzen bleiben, weiter vertiefen, alles kommen und gehen lassen, darüber hinausgehen. Entschlossen und beharrlich dran bleiben.
Herr oder Herrin im eigenen Haus
Die Willenskraft hilft uns, wieder Herr oder Herrin im eigenen Haus zu werden und die Aufmerksamkeit zurückzulenken auf den gegenwärtigen Moment. Doch das ist erst der Anfang, die Initialzündung, aus der ein inneres Feuer wird, das immer heller brennt und irgendwann keinen Anzünder mehr braucht.
Paradoxerweise brauchen wir ein willensstarkes Ich, um das kleine begrenzte Ich, das Leid verursacht und Befreier und Gefangener in einem ist, zu überwinden. So lange die Willenskraft fixiert bleibt auf enge persönliche Ziele, hat sie nur begrenzte Power. Richtig interessant wird es erst, wenn aus Anstrengung Hingabe wird und Willenskraft sich mit Herzweisheit verbindet.
Der kleine Wille lässt sich in den großen Willen hineinfallen
Wenn sich die öden, bis zum Überdruss bekannten »Ich Ich Ich-Sätze« im Kopf erschöpfen oder für einen kostbaren Moment ganz verschwinden, weil da kein Ich mehr ist, das etwas will und haben möchte, sondern nur noch offene, grenzenlose Weite, dann öffnet sich eine Dimension von Willen, die nichts zu tun hat mit der Fixierung auf mehr persönliches Glück und ist Erfüllung in einem viel umfassenderen Sinn.
Der kleine Wille lässt sich in den großen Willen hineinfallen und löst sich darin auf wie ein Tropfen im Ozean. Daraus entsteht absichtsloses und deshalb höchst wirksames Handeln.
Quelle: „Das Leben ist ein Geschenk “ – Hinnerk Polenski