Einen Weg gehen. »Wenn du es eilig hast, mach‘ einen Umweg«, lautet ein japanisches Sprichwort.
Vielleicht zaubert uns dieser Satz ein Lächeln aufs Gesicht und lässt uns kurz innehalten in unserem Tun. Aber wirklich verstehen können wir ihn nicht. Wir sind zielstrebig und fürchten uns vor Umwegen.
Ankommen wollen – aber Wo?
Wir haben Angst, kostbare Zeit zu verlieren durch eine falsche Abzweigung, weil wir denken, wir müssten schnell ankommen. Aber wo? Wo wollen wir hin? Was ist unser Ziel? Hier beginnen die Probleme.
Wenn wir glauben, dass wir irgendwo ankommen müssen, sind wir nicht da. Unser Körper stolpert die Straße entlang, unser Geist ist schon anderswo. Während wir die Treppe hochsteigen, bearbeiten wir im Kopf schon die Post. Wenn wir essen, räumen wir im Geiste schon die Küche auf. Während wir die Küche aufräumen, feilen wir an einer Mail, die wir noch abschicken wollen. Während wir die Mail schreiben, bereiten wir das Telefonat vor, das in einer Stunde ansteht. Während wir telefonieren, planen wir den nächsten Urlaub und träumen uns weg an den Strand.
Und wenn wir zwei Monate später wirklich unter der Palme am Strand liegen, versuchen wir verzweifelt, eine Lösung zu finden für das Problem, das uns der Chef am letzten Arbeitstag auf den Tisch gelegt hat, und verpassen den Sonnenuntergang.
Wo ist die Abkürzung?
Und dann melden wir uns zum Zen-Seminar an, um endlich zur Ruhe zu kommen, und während wir schweigend dasitzen, denken wir darüber nach, wie großartig unser Leben sein wird und was wir alles anstellen werden, wenn wir endlich innerlich ruhig und gelassen sind.
Statt uns auf unseren Atem zu konzentrieren, träumen wir von Erleuchtung, weil wir denken; dass unser Leben dann erst wirklich losgeht. Nur sitzen und den Atem kommen und gehen lassen erscheint uns als Zeitverschwendung. Es muss doch schneller gehen. Da muss es doch eine Abkürzung geben.
Weg ohne Ziel
Aber es gibt keine Abkürzung, weil es keinen Weg gibt und auch kein Ziel. »Zazen [die Sitzmeditation] bringt dir gar nichts«, dieser Satz von Zen-Meister Kodo Sawaki ist harter Tobak für unseren Verstand, der nur die »Wenn-dann-Logik« kennt. Wir sind vollkommen fixiert darauf, einen Geheimweg zu finden, der uns schnell und bequem zum Glück bringt, das wir irgendwo da draußen vermuten. Auf keinen Fall hier.
Doch der Weg, von dem im Zen die Rede ist, führt uns immer genau dahin, wo wir jetzt sind. Zen heißt, den Rückwärtsgang einlegen, um vorwärts zu kommen. Denn nur im Anhalten offenbart sich, dass alles, was wir suchen, direkt vor unserer Nase liegt und wir kein Ticket ins „Paradies“ brauchen, weil wir schon mittendrin sitzen.
Quelle: „Das Leben ist ein Geschenk – Weisheit und Wille als Weg“ – Hinnerk Polenski