Gewohnte Wahrnehmung – Anfängergeist

gewohnte Wahrnehmung Anfängergeist
Eine Rose immer wieder neu wahrnehmen – mit frischem Blick

Gewohnte Wahrnehmung und Anfängergeist sind zwei Möglichkeiten, wie wir die Welt wahrnehmen. Immer wieder gleich, wie durch einen geistigen Filter (gewohnte Wahrnehmung). So in der Art: Ahh, ja. Das kenne ich doch, habe ich schon einmal gesehen oder erlebt.

Oder immer wieder neu, mit Anfängergeist. Und ob etwas, was wir wahrnehmen tatsächlich so ist, wie wir es aus der Erinnerung, aus der gewohnten Wahrnehmung heraus annehmen, oder doch in Nuancen oder vielleicht auch ganz und gar anders, das erkennen wir nur mit einem neuen, frischen Blick. Mit Anfängergeist.

Für diese Haltung gibt es im Zen ein spezielles Wort: Shoshin. Es bedeutet neben Anfängergeist so viel wie „etwas aufs Neue betrachten“. Meiner Erfahrung nach ist „etwas aufs Neue zu betrachten“ fundamental, um eine Situation, um die Welt, so wie sie im Moment wirklich ist, zu erkennen.

Wenn wir dazu nicht in der Lage sind, agieren wir auf der Grundlage gestriger Erkenntnisse und Vorstellungen. Wir stecken fest in alten, vielleicht schon überkommenen Erfahrungen und Einschätzungen. Dies gilt für alles was uns begegnet im Leben. Alltägliche Begebenheiten, unsere Beziehungen, unsere Vorstellungen wie etwas ist, gleich ob sich das auf unseren privaten Lebensbereich oder um Lösungen, Kollegen, Markteinschätzung oder Wettbewerber im beruflichen Umfeld bezieht.

Wir werden selbstgefällig, und eines Tages wachen wir vielleicht auf und erkennen, dass wir im Strom hinter anderen herschwimmen. Das Leben anderer führen oder auch nur die Regie in unserem Leben aus der Hand gegeben haben.

Im Zen, im Mindfulness-Training oder Achtsamkeits-Training nennen wir die Fähigkeit, Dinge mit frischem Blick zu sehen, „Anfängergeist“. Und es ist – nicht nur dort – eine wichtige Haltung und Erkenntnis zugleich. Wir Menschen haben leider einige Wesenszüge, die einem Anfängergeist im Wege stehen: gewohnte Wahrnehmung beziehungsweise kognitive Rigidität, Starrheit.

„Ahh, das kenne ich schon!“

Stelle dir vor, zum allerersten Mal eine Rose zu betrachten. Du nimmst die Farbe wahr, wie weich sich die Blütenblätter anfühlen, den süßen Duft und die Dornen, ganz so, als hättest Du noch nie etwas Ähnliches gesehen. Beim ersten Mal fertigt dein Verstand ein Bild von diesem neuen Objekt und legt es unter „Rose“ ab.

Wenn du das nächste Mal eine Rose siehst, wirst du die Rose umgehend erkennen. Da dein Verstand die Rose mit dem gespeicherten Bild in deiner Erinnerung sofort verbindet, wirst du innerlich das Bild deiner  Erinnerung sehen. Nicht das eigentliche Objekt vor deinen Augen. Statt die Rose – diese Rose in diesem Moment – so zu sehen, wie sie wirklich ist, stellt dein Verstand fest: „Ahh, kenn ich schon: Noch eine Rose.“

Nicht nur der Mensch, auch andere Tiere erleben Vergleichbares. Eine Gruppe von Forschern hat zum Beispiel Mäuse vor die Tür zu einem Labyrinth gesetzt. Mit einem Klicken öffnete sich das Labyrinth und die Mäuse konnten hinein und nach einem Stückchen Schokolade suchen.

In den ersten Runden des Experiments verzeichneten die Wissenschaftler hohe Gehirnaktivitäten bei den Mäusen, während diese das Labyrinth erkundeten. Sie nahmen alles neue wahr. Nach einigen Runden verringerte sich die Gehirnaktivität und zeigte sich nur noch beim Klicken des Öffnens der Tür deutlich und in dem Moment, in dem die Maus die Schokolade fand.

Die Mäuse hatten eine gewohnte Wahrnehmung verinnerlicht und nahmen das Labyrinth nicht mehr so wahr wie in den ersten Runden. Nun kannten sie ihren Weg. Sie folgten gewohnten Mustern, waren im Autopilot unterwegs.

Das ist nicht unbedingt schlecht. Unser Leben wäre ziemlich anstrengend, wenn wir nicht in der Lage wären, Dinge wiederzuerkennen, die wir zuvor schon gesehen haben. Evolutionär spricht man von Musterwahrnehmung. Sie zählt zu den großartigsten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Ohne die Mustererkennung würden wir überhaupt nichts zustande bekommen: Wir müssten jedes Mal, wenn wir schreiben wollen, herausfinden, was ein Stift ist und wie er funktioniert.

Dennoch: Die automatische Verknüpfung zwischen dem, was dir wirklich gegenübersteht, und dem, was du in der Vergangenheit schon einmal gesehen hast, was wir neurologisch als gewohnte Wahrnehmung bezeichnen, kann problematisch werden. Denn sie führt dazu, dass du das, was da ist, mit dem du konfrontiert bist, nicht wirklich siehst.

Gewohnte Wahrnehmung steht uns im Weg

Im Grunde hat das, was du siehst, wesentlich weniger mit der Realität zu tun als mit der Realität, die dein Geist auf der Grundlage deiner Erfahrungen, deiner Geschichte und Gewohnheiten zusammenbaut. Anders gesagt: Du bist darauf programmiert, die Realität auf bestimmte Weise wahrzunehmen. Jede Rose ist immer dieselbe Rose.

Und Rosen sind nicht das Einzige, was wir immer wieder in gewohnter Wahrnehmung, im Autopiloten, wahrnehmen. In Bezug auf andere Menschen, auf unsere Arbeit, auf uns selbst beschränken wir uns auf festgelegte Wahrnehmungen – je nachdem, was wir wissen und immer schon gewusst haben. So werden wir in unserem Geist starr, kognitiv rigide.

Ein starrer Geist, kognitive Rigidität, Unbeweglichkeit, hervorgerufen von gewohnter Wahrnehmung, ist unserer Kreativität und unserer Fähigkeit Lösungen zu finden wenig zuträglich, ja geradezu im Wege. Sie hilft uns nicht, innovativ zu sein. Und unterstützt uns nicht dabei, neue Lösungen für alte Probleme zu finden, oder auch für neue. Glücklicherweise ist niemand zu kognitiver Rigidität oder gewohnter Wahrnehmung verdammt. Dinge auf neue Weise zu betrachten – mit Anfängergeist –‚ ist eine bewusste Entscheidung, die wir treffen können.

Raus aus dem Autopiloten – Gewohnte Wahrnehmung verlernen

Wie häufig begegnen wir den gleichen Herausforderungen immer und immer wieder, sowohl zu Hause als auch am Arbeitsplatz? Wie wäre es, wenn wir diese Herausforderungen mit frischem Blick betrachten könnten? Wären wir ihnen besser gewachsen?

Die Wissenschaft scheint genau das nahezulegen. In einer Studie der Ben-Gurion-Universität haben Forscher die Auswirkungen von Achtsamkeits-Training / Mindfulness-Training auf kognitive Rigidität untersucht: Zu Beginn wurden den Teilnehmern Probleme präsentiert, zu deren Lösung relativ komplexe Überlegungen notwendig waren.

Im weiteren Verlauf des Tests wurden die Aufgaben sehr viel leichter. Nachdem sie sich mit den schwierigen Problemen befasst hatten, fiel es den Teilnehmern schwer, die leichten Lösungen zu erkennen.

„Ein Problem kann nicht auf derselben geistigen Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist.“
(Albert Einstein)

Albert Einstein wird die Aussage zugeschrieben, ein Problem könne nicht auf derselben geistigen Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist. Da scheint etwas Wahres dran zu sein. Die Probanden in dem Experiment wurden von der Erfahrung geblendet, dass komplexe Lösungsansätze gefragt sind. Obwohl die späteren Probleme sehr viel leichter waren, wurden sie von ihrer vorhergehenden Erfahrung daran gehindert, die leichten Lösungen zu erkennen.

Nachdem die gleichen Personen acht Wochen Mindfulness-Training absolviert hatten, verbesserten sich ihre Ergebnisse signifikant. Ihr Verstand war weniger starr und auf bekannte Lösungsmuster gerichtet und sie konnten die realen Probleme vor sich sehen, statt sich auf die gewohnte Wahrnehmung zu beziehen.

Wirkung von Achtsamkeit auf den Autopiloten

Aber inwiefern bewirkt Mindfulness-Training, dass unser geistiges Festgefahrensein nachlässt? Ohne Mindfulness / Achtsamkeit handeln wir oft im Autopiloten, fast unbewusst. Ein Reiz begegnet uns – eine Wahrnehmung, eine Situation – und dieser Reiz löst eine Handlung, eine Reaktion aus. Auf immer wieder den gleichen Reiz folgt immer wieder die gleiche Reaktion. Automatisch. Im Autopilot-Modus.

In unserem Gehirn wird der Reiz mit bekannten Reizen aus unserer Erfahrung heraus verglichen. Und dabei reicht in der Regel eine nur ungefähre, grobe Ähnlichkeit mit bekannten Reizen, so dass vielleicht neue Nuancen in diesem Reiz nicht berücksichtigt werden.

Achtsamkeit – sofern sie sich durch Meditation oder bewusstem Achtsamkeits-Training in uns gefestigt hat – kann diesen Reiz-Reaktions-Mechanismus verändern. Sie versetzt uns in die Lage zwischen Reiz und Reaktion einen Moment der Pause einzuschieben. Das hemmt den Automatismus, den Autopiloten.

In diesem Moment eröffnet sich uns die Möglichkeit den Reiz genauer, umfänglicher, mit einem neuen Blick wahrzunehmen und dann aus möglichen Reaktionsoptionen auszuwählen und darauf zu regieren. Diese Optionen können sein:

(1) Ich reagiere so, wie ich immer reagiere. Aber als bewusste Entscheidung.

(2) Ich reagiere ganz anders, ganz neu.

(3) Ich reagiere nicht. Und lasse den Reiz ins Leere laufen.

Oder wie Viktor Frankl sagt:

„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht,
unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“

Es ist dieser eine Moment, diese eine Sekunde, die wir gewinnen, die uns andere Möglichkeiten und Freiheit eröffnet. Dieser eine Moment macht den Unterschied. Er hält uns davon ab, in gewohnte Muster zu verfallen und ermöglicht es uns, stattdessen ganz bewusst die Situation so zu sehen, wie sie ist.

Durch Achtsamkeit lernen wir, unseren Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten nicht automatisch nachzugeben. Automatische Verknüpfungen laufen dann weniger automatisch ab. In den einen Moment zwischen dem Moment, in dem wir die Rose vor uns sehen, und dem Moment, in dem wir sie mit unserem mentalen Bild verknüpfen, können wir uns dazu entscheiden, die Rose aufs Neue anzuschauen und zu entdecken.

Die Fähigkeit, die Realität so zu sehen, wie sie tatsächlich vor uns ist, oder zumindest die Dinge nicht immer wieder auf althergebrachte Weise zu sehen, ist das Wesen des Anfängergeistes. Wenn wir nicht über Anfängergeist verfügen, sind wir in unseren alten Erfahrungen und Handlungsmustern gefangen. Wir stecken in gewohnten Sichtweisen fest. Mit Anfängergeist betrachten wir die Dinge mit frischem Blick und offenem Geist. Glücklicherweise haben wir selbst die Wahl.

Entscheide dich für den Anfängergeist

Wenn du Anfängergeist entwickelst, kann das die Art, wie du das Leben wahrnimmst, auf wunderbare Weise verändern. Dein (all)tägliches Leben – im privaten Bereich oder im beruflichen Umfeld als Mitarbeiter, Führungskraft, Lehrer oder Unternehmer –kann sich mit neuen Möglichkeiten füllen, wenn du die Dinge aus einer neuen Perspektive betrachtest.

Achtsamkeit ist die Eingangstür dazu.

Quelle: inspiriert von Rasmus Hougaard, Mindful Business

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