Zen und Zeit. In der letzen Nacht war die Zeitumstellung von Winter- auf Sommerzeit. Wer hat sich heute noch nicht die Fragen gestellt: Wurde die Uhr vor- oder zurückgestellt? Wieviel Uhr ist es jetzt nach der Zeit von gestern? Oder vielleicht tiefschürfender: Was ist Zeit eigentlich? Welche Bedeutung hat Zeit für mich? Wie lebe ich in der Zeit?
Zeit im Alltag – getaktet, knapp, linear
Unser alltägliches Verständnis von Zeit ist geprägt von Taktung, Planung und Effizienz. Zeit erscheint als etwas Lineares – sie beginnt irgendwo, sie führt irgendwohin, und sie scheint uns dabei ständig zu entgleiten. Wir sprechen von Zeitmangel, Zeitdruck, Zeitmanagement.
Typische Formulierungen wie:
• „Ich habe keine Zeit.“
• „Die Zeit rennt.“
• „Ich muss meine Zeit besser nutzen.“
• „Zeit ist Geld.“
zeigen, wie sehr wir Zeit als knappes Gut und äußeren Faktor erleben. Zeit ist in diesem Denken etwas, das außerhalb von uns existiert – messbar in Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen. Etwas, das sich durch Kalender und To-do-Listen (vermeintlich!) kontrollieren lässt – oder uns kontrolliert.
In diesem Modus leben wir häufig nicht in der Zeit, sondern vor oder nach ihr, oder hinter ihr her: Im Planen für später. Im Grübeln über gestern. Die Gegenwart wird zum flüchtigen Durchgangsort.
Zeit im Zen – gelebte Gegenwärtigkeit
Zen stellt diesem Alltagsverständnis eine radikal andere Sichtweise entgegen. Hier ist Zeit kein Objekt, kein Besitz, kein Antreiber, kein etwas. Zeit ist Sein. Oder genauer: Zeit und Sein sind untrennbar.
Der japanische Zen-Meister Dōgen (13. Jhd.) formuliert es in seinem zentralen Text „Uji“ („Sein-Zeit“) so:
„Zeit vergeht nicht. Zeit ist das Sein selbst.“
Das bedeutet: Du bist nicht in der Zeit – du bist Zeit. Du bist die Zeit, die du atmest, die du gehst, die du sitzt.
Im Zen ist Zeit keine abstrakte Abfolge von Momenten. Zeit ist kein Maßstab – sondern Erfahrung. Jeder Augenblick ist eine vollkommene Manifestation von Sein-Zeit.
Die Vergangenheit ist nur in ihrer Wirkung im Jetzt real. Die Zukunft ist Vorstellung, Projektion. – Nur der gegenwärtige Moment zählt – nicht als Fluchtpunkt, sondern als vollständige Wirklichkeit.
Meditation als Erfahrung von Zeit
In der Zen-Meditation, dem Zazen, zeigt sich eine andere Qualität von Zeit – jenseits von Taktung und Ziel. Hier wird nicht „Zeit geopfert“, sondern Zeit verwirklicht. In der Stille des Sitzens lösen sich die üblichen Taktungen auf. Es entsteht ein Raum, in dem wir Sein und Zeit als deckungsgleich erfahren.
Der gegenwärtige Moment wird nicht mehr als Übergang betrachtet, als schmaler Grat zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern als etwas Eigenes, das nichts braucht außer sich selbst, also als eigenständige Wirklichkeit. In dieser Erfahrung wird das Drängen der Uhr still. Es zählt nicht mehr, wie viel Zeit vergangen ist – sondern wie tief wir in ihr verweilen.
Zeit – oder doch Ich?
Zen lädt uns ein, die Frage „Was ist Zeit?“ durch eine noch grundlegendere zu ersetzen:
„Wer bin ich – in dieser Zeit?“
Denn nach Dōgen gibt es keine Zeit außerhalb des Seins. Wir sind die Zeit, die wir leben.
Wenn wir sie wirklich leben. Das ist die Bedeutung von Zen und Zeit.
Eine vertiefte Darstellung bietet das Essay „Zeit ist Sein“, welches auch auf Schnittmengen des Zeitbegriffs von Dogen mit der Raum-Zeit Albert Einsteins eingeht.