„Wenn die Zeit zum Sitzen kommt, sitze einfach!“

Zeit zum Sitzen - Dunkle, mächtige Wolken am Himmel über freiem Feld, Blitze, Unwetter
Zeit zum Sitzen | Wenn es stürmt im Leben

Zeit zum Sitzen. Wann ist das? Mit Sitzen ist hier die Meditation, das Zazen (Sitzmeditation) im Zen gemeint. – Wann also ist die Zeit für Meditation?

Neugier, Offenheit … und Konflikt

Wenn in Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen das Thema auf Meditation kommt, dann sind doch viele interessiert und neugierig. Da ist eine grundsätzliche Offenheit. Vielleicht sogar eine Sehnsucht nach etwas, was „gut“, „wohltuend“, „beruhigend“ ist. Sie verstehen, dass es da etwas gibt, was man ausprobieren, worauf man sich einlassen könnte. Sie empfinden das dann als etwas, was – sofern sie sich darauf einlassen wollen – zusätzlich in ihren Alltag kommen könnte.

Und dann entsteht bei vielen auch schon ein Konflikt. Sehr oft kommt das in Aussagen wie die Folgenden zum Ausdruck:

„Mein Leben ist im Moment so turbulent. Wenn sich das alles beruhigt hat, dann versuche ich das mal mit Meditation.“

Oder:

„Gerade habe ich überhaupt keine Zeit dafür. Wenn sich das ändert, dann könnte ich das mit ZEN mal probieren.“

Selbstbesinnung und Meditation als Bonus-Track

Sie sehen Meditation also als etwas an, was an der Reihe ist, wenn sie alles andere erledigt haben. Also als eine Art Zugabe, einen Bonus-Track. Dabei ist es genau umgekehrt. Zeit zum Sitzen – also Meditation – ist nicht dann, wenn es nichts anderes mehr zu tun gibt. Es ist ganz besonders dann angebracht, wenn das Gefühl da es, keine Zeit zu haben, in Problemen, Ängsten, Aufgaben und Pflichten zu versinken. Also, wenn es um einen herum stürmt und wild ist.

Warum? – Weil wir in der Meditation anhalten können und in der Präsenz – dem Hier und Jetzt – besser erkennen, was jetzt wirklich notwendig ist, was gerade die Aufgabe mit der höchsten Priorität ist, was zu tun und was auch zu lassen ist. In der Stille der Meditation sehen wir klarer, entsteht Klarheit und Bewusstsein über eine Situation und über uns selbst.

Je mehr Aufgabenfülle und das Gefühl, keine Zeit zu haben, als Gedanken unsere Welt, unser Erleben und unser Handeln bestimmen, desto hilfreicher ist es, Meditation dem VORAN – und damit auch entgegen – zu stellen.

Dazu passend gibt es eine (wahre) Begebenheit, eingebettet in einen Tag, an dem die Welt ins Wanken kam.

„Wenn die Zeit zum Sitzen kommt, sitze einfach“

Ein Zen-Schüler hatte sich in New York mit seinem Zen-Meister zu einem Gespräch verabredet. Sie verabredeten sich für den Spätnachmittag am 11. September 2001 (!). Das Zen-Zentrum lag downtown New York, in der Nähe des World Trade Center. Natürlich stand die ganze Stadt (und nicht nur New York) im Zeichen der verheerenden Anschläge auf das World Trade Center und es ging in der ganzen Stadt an diesem Tag drunter und drüber.

Schrecklich bekümmert rief der Schüler den Zen-Meister an. »Komm einfach her«, sagte der Meister nur. Der Schüler traute seinen Ohren nicht. »Wie soll das gehen?«, rief er. »Alle Straßen sind gesperrt.« »Komm her«, wiederholte der Meister. Der Schüler wusste nicht, was er tun sollte. Nach einer Weile rief er erneut an, um sicherzugehen, dass der Zen-Meister wusste, was gerade passiert war. »Wieso rufst du noch mal an?«, fragte der Zen-Meister. »Komm einfach her zu unserer Verabredung«, sagte er und legte auf.

Völlig perplex wand sich der Schüler durch alle möglichen Straßensperren und Umleitungen, und wie durch ein Wunder und zu seinem großen Erstaunen schaffte er es irgendwie, rechtzeitig beim Zendo einzutreffen. Er läutete die Glocke, ging nach oben und führte sein Gespräch mit dem Meister. Pünktlich um sechs sagte der Meister: »Okay, das Gespräch ist vorbei. Nun ist es Zeit zum Sitzen.« Und er bereitete sich darauf vor, Zazen (Zazen bedeutet Sitzmeditation) zu praktizieren.

»Aber Meister«, sagte der Schüler, »in der Stadt geht es drunter und drüber. Niemand wird heute Abend kommen.« »Ob viele kommen oder keiner kommt, spielt keine Rolle«, erwiderte der Meister. »Wenn die Zeit zum Sitzen kommt, sitze einfach.«

Aus: ZEN Leben – Ein Kurs in Gelassenheit von Brenda Shoshanne (O.W. Barth Verlag).

ZEN und Meditation sind keine Form von Wellness

ZEN und Meditation sind kein Zeitvertreib, oder gar irgendeine Form von Wellness nur für leichte und einfache Zeiten im Leben. Die Zeit zum Sitzen ist (auch und gerade) dann, wenn es stürmisch, wild und ungewiss um uns herum ist.

Am 11. September 2001 war es für die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Sanitätern wichtig, Brände zu löschen, nach Überlebenden und Verletzten in den Trümmern zu suchen, etc. Viele andere verfielen sofort in Aktionismus. Das ist verständlich, ist dieser Aktivismus doch durch das Gefühl der Verletzlichkeit, der Ungewissheit zu erklären. Aber ist das auch gut gewesen?

Wie wäre die Zeit danach, vielleicht sogar bis heute, verlaufen, wenn alle anderen, die nicht direkt in der Situation gebunden waren, dem Rat des Zen-Meisters in New York gefolgt wären und (auch) eine Zeit zum Sitzen genutzt hätten. Und nicht gleich schnelle Entscheidungen getroffen hätten, noch bevor klar war, bevor ein Bewusstsein darüber entstand, was da gerade geschehen ist. Die Verschärfung von Sicherheitsgesetzten weltweit, das Entstehen von Angst und Misstrauen bis hin zum Afghanistankrieg haben ihren Ursprung in den Entscheidungen, die den Wirren dieser Stunden entsprangen.

Bewusstheit und Klarheit im Alltag

Zeit zum Sitzen schafft Bewusstheit über die Situation, in der wir sind. Lässt Klarheit über innere Zustände entstehen und ermöglicht einen Raum für Entscheidungen, die weiter tragen als impulsives, unbewusstes oder unwillkürliches, automatisiertes Handeln.

Und es müssen nicht immer die großen Katastrophen der Welt sein, in denen wir das erfahren. Das gilt genauso für größeren und kleineren Ereignisse im alltäglichen Leben.

Wann ist für Dich Zeit zum Sitzen?

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