Gleichmut – Weite halten, klar bleiben

Gleichmut - Ein See, in dem sich der Himmel, die Wolken und die Bäume am Ufer spiegeln.

Gleichmut – Weite halten, klar bleiben

Gleichmut – Weite halten, klar bleiben. Wenn das so einfach wäre.
Mittwoch, 11:15 Uhr. Die Mailbox explodiert: drei parallele Projekte, Missverständnisse, scharfe Untertöne. In dir steigt Hitze auf, die Finger wollen auf der Tastatur losschießen.

Du hältst inne, hebst den Blick vom Bildschirm, atmest einmal lang aus. „Was ist hier wirklich wichtig – und was kann vorbeiziehen?“ Du liest erneut, sortierst Fakten, formulierst kurz und freundlich. Der Ton kippt aus dem Angriff in freundlichen Gleichmut. Aus Tempo wird Klarheit. Aus Gegeneinander ein Gespräch.

Die kleine Mut-Reihe

In der kleinen Mut- Reihe konntes du lesen, wie Mut Wege aus der Furcht bahnt und wie Sanftmut Türen offen hält. Jetzt geht es um die dritte Qualität, die das Ganze stabil macht: Gleichmut – die innere Weite, in der Handeln und Beziehung tragen.

Begriff und häufige Missverständnisse

Gleichmut bedeutet innere Weite und Stabilität mitten im Wechsel der Erfahrungen. Er ist nicht dumpf, nicht gleichgültig – sondern wach und gelassen. Gleichmut fühlt, nimmt wahr und bleibt dennoch unaufgeregt, weil er nicht von jedem Impuls mitgerissen wird. Das „Gleich“ meint ausgeglichen, nicht flach. Und das „Mut“ ist wörtlich zu nehmen: Es braucht Bereitschaft, bei dem zu bleiben, was da gerade ist, ohne sofort einzugreifen.

Ein hilfreiches Bild dabei: weiter Himmel, wechselndes Wetter. Die Wolken kommen und gehen – der Himmel bleibt.

Verhältnis zu Mut, Sanftmut und Demut

Die drei Qualitäten greifen ineinander: Mut gibt Richtung und Kraft – Handeln trotz Furcht. Sanftmut setzt den Ton und strahlt Wärme aus – verbunden bleiben, auch wenn es schwierig wird.

Gleichmut entwickelt Weite und Regulation – innere Stabilität, damit du wählen kannst statt reflexhaft und impulsiv zu reagieren.

Demut hält diese Kräfte in Balance: Es geht nicht um „Rechthaben“, sondern um das Ganze.

Als Formel für den Beitrag: Kraft (Mut) + Wärme (Sanftmut) + Weite (Gleichmut) = tragfähiges Handeln – gehalten von Demut.

Psychologie & Neurologie: warum Gleichmut wirkt

Ein zentrales Modell ist das Fenster der Toleranz (im Original „Window of Tolerance“): es ist ein Bild, wie wir gerade aufgestellt sind. Ist unser Toleranzfenster ausreichen groß, so dass wir trotz innerer Erregung flexibel, klar und handlungsfähig bleiben? Oder ist es eng und wir kippen in Übererregung (Alarm, Angriff, Stress, Panik) oder Untererregung (Einfrieren, Abschalten)?

Gleichmut erweitert dieses Fenster. Je weiter es ist, desto seltener verlieren wir uns in Reaktivität – und desto mehr Wahl haben wir.

Hilfreich ist die Unterscheidung: „Ich habe Ärger – ich bin nicht der Ärger.“ Dieser kleine Perspektivwechsel senkt den Impulsdruck und schafft Raum zwischen Reiz und Reaktion.

Dazu passt eine kurze Bewertungsarbeit: „Ist das, was ich gerade erfahre, wahr? Ist es wichtig? Ist es jetzt wichtig?“ – Drei Fragen, die Drama in Richtung Klarheit verschieben.

Der Körper ist der große Regler. Ein weites Blickfeld (sanfter Blick, nicht starren), länger ausatmen als einatmen und den Schwerpunkt in den Bauch sinken lassen (ins Hara) senden dem Nervensystem „Alles gut“ – das beruhigt nach innen und wirkt ausgleichend nach außen. Und: Selbstmitgefühl verhindert, dass Gleichmut zu Kälte gegen dich selbst wird. Milde erhöht die Klarheit; Härte verengt sie.

Zen-Verknüpfung: Upekkhā und die Frische des Anfänger-Geistes

In der zen-buddhistischen Tradition ist Upekkhā eine der Vier Unermesslichen Qualitäten:

  • Metta – liebende Güte,
  • Karunā – Mitgefühl,
  • Muditā – Mitfreude,
  • Upekkhā – Gleichmut, unerschütterliche Ausgewogenheit, die alle umfasst.

Zazen – „nur sitzen“ – ist die Übung dazu: Wetter kommt und geht, der Sitz, die Haltung bleiben.

Du sitzt mitten in der Wirklichkeit, ohne sofort reagieren zu müssen. Mit der Zeit wird diese Haltung zur Alltagsmelodie. Das stille Sitzen lässt Körper, Herz und Geist immer wieder frisch werden; der Meditierende ist nicht mehr verstrickt im Auf und Ab der Extreme, sondern schaut aufrecht, neugierig, zuversichtlich, freundlich und mit Humor auf jeden Augenblick. Shunryu Suzuki nennt das „Anfängergeist“: Wenn wir offen bleiben, bleibt das Leben jung und frisch. So wird Gleichmut nicht trocken, sondern sehr lebendig.

Auch im Achtfachen Pfad ist Gleichmut spürbar, etwa in der Rechten Rede: Worte, die wahr und hilfreich sind, zur rechten Zeit gesprochen und von freundlicher Absicht getragen. Gleichmut ist hier der Filter, der Überhitzung verhindert und Verbundenheit erhält.

Gleichmut im Körper – Embodiment

Du kannst Gleichmut buchstäblich spüren: Richte den Blick 10–20 Sekunden in Richtung des Horizonts. Visuelle Weite erzeugt innere Weite. Atme 4–6-mal ruhig aus, lass die Ausatmung ein wenig länger werden als die Einatmung. Spüre dein Hara (die Kraft aus dem Bauchraum), lass das Gewicht in die Füße sinken, löse Kiefer und Zunge vom Gaumen. Nimm die Haltung „starker Rücken, weiche Vorderseite“ ein: aufrecht und offen.

Dieses Körper-Setting macht Gleichmut greifbar, spürbar – erst im Leib, dann im Geist, dann im Handeln.

Typische Stolpersteine – und wie du sie umgehst

Manchmal wird Gleichmut mit Vermeidung verwechselt („Spiritual Bypassing“). Das wirkt ruhig, ist aber ein Ausweichen. Ein Gegenmittel dazu: ehrlich fühlen und eine kleine sinnvolle Handlung setzen. Gleichmut kann auch als Kälte ankommen, wenn Sanftmut fehlt. Verbinde daher Weite mit Wärme.

Ein anderes Missverständnis ist Überkontrolle: „Ich bleibe jetzt gefälligst ruhig!“ – das verkrampft. Besser: Weichheit im Körper und realistische Selbstrede („Es ist okay, dass das herausfordernd ist – ich nehme mir 2 Minuten.“).

Und schließlich die Tempo-Falle: Wir verwechseln Geschwindigkeit mit Wichtigkeit. Gleichmut entschleunigt bewusst – nicht aus Trägheit, sondern um Qualität zu ermöglichen.

Fragen zum Mitnehmen in den Alltag

Frage dich heute: Welche Re-Aktion verliert an Kraft, wenn ich sie nicht füttere?

Was ist das eine, das ich gelassen, nicht getrieben und gut tue?

Und wo braucht es Weite – nicht weitere Argumente?

So wird Gleichmut zu deiner stillen Ressource: Er macht Raum, damit Mut wirken und Sanftmut verbinden kann.

 

Die Mut-Serie:

Mut – Handeln trotz Furcht

Sanftmut – Mut bahnt Wege, Sanftmut öffnet Türen

Gleichmut – Weite halten, klar bleiben

Demut – Festen Boden finden, frei handeln

 

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