„Wir sind definitiv viel zu lange im Büro“

Landesgartenschau in Schwäbisch Gmünd

Büro
„Die meiste Zeit sind wir gedanklich mit Dingen beschäftigt, die noch vor uns oder bereits hinter uns liegen. Von morgens bis abends hetzen wir uns ab, gerade im Büro, um irgendwo hinzukommen, aber bevor wir ankommen, sind wir gedanklich schon längst wieder weg. Das ist nicht gesund auf Dauer. Denn der Augenblick, das Hier und Jetzt, ist das einzige, was wir haben.“

„Wir sind definitiv viel zu lange im Büro“

Der amerikanische Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn ist ein Star. Auch im Silicon Valley hat er zahlreiche Anhänger. Sein Rat: Einfach mal nichts zu tun. Wie passt das zusammen?

Herr Kabat-Zinn, Sie sind ein Star im Silicon Valley. Dabei preisen Sie das Nichtstun. Kommt das wirklich gut an in den Chefetagen von Google und Facebook?

Unternehmen auf der ganzen Welt haben gemerkt, dass ihre Mitarbeiter sich aufreiben, wenn sie zwischendurch nicht zur Ruhe kommen und Kraft tanken. Ich zeige ihnen, wie das funktioniert, wie sie besser leben, effektiver arbeiten, kreativer werden. Ohne großen Aufwand.

Ihre Wunderwaffe nennt sich Achtsamkeit. Was genau ist das?

Achtsamkeit ist die Kunst, sich durch Meditation ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, unseren Geist so zu schärfen, dass wir unser volles Potential ausschöpfen.

Das klingt nach Buddhismus.

Das wurzelt auch im Buddhismus. Ich habe die Meditation aber aus der religiösen Spiritualität herausgelöst.

Wenn Sie in New York, London oder Hongkong auftreten, füllen Sie ganze Hallen. Da kommen mehr als 1000 Menschen, um Sie zu hören.

Das war vor 30 Jahren, als ich an der University of Massachusetts mit meinen Forschungen zur Achtsamkeit angefangen habe, noch ganz anders. Da ist kein Mensch gekommen!

Meditieren war lange verpönt als esoterische Spinnerei?

Führungskräfte, die vor Jahren schon gemerkt haben, dass ihnen das Meditieren hilft, haben das heimlich praktiziert, weil sie wussten, sie wären belächelt worden. Heute reden sie offen darüber.

Hat man Sie früher auch belächelt?

Mich? Nein, nie. Wegen meines wissenschaftlichen Hintergrunds hat das nie jemand gewagt.

Sie sind promovierter Molekularbiologe. Wie kamen sie zur Meditation?

Ich habe früh die Bekanntschaft eines Zen-Meisters gemacht. Die Meditation hat mich gleich gepackt. Ich habe gemerkt, dass man damit Krankheiten zwar nicht unbedingt heilen, sich aber besser mit ihnen arrangieren kann.

Sie haben 1979 am Massachusetts Medical Center eine Klinik zur Stressreduktion gegründet. Heute arbeiten mehr als 300 Kliniken in Amerika nach ihrem Ansatz. An was leiden Ihre Patienten?

Die meisten kommen wegen Burnout und Depressionen oder schweren Krankheiten wie Krebs und Herzkrankheiten. Viele sind verzweifelt, weil sie im schulmedizinischen Sinne als „austherapiert“ gelten. Man hat ihnen gesagt, dass ihnen nicht mehr zu helfen ist.

Aber Sie können ihnen helfen?

Wir können ihnen beibringen, zum Beispiel mit chronischen Schmerzen besser zu leben. Dadurch gewinnen sie ein Stück Lebensfreude zurück. Das ist unglaublich viel wert.

Wer seinen Guru sucht, liegt bei Ihnen falsch?

Definitiv. Meine Erkenntnisse beruhen auf 35 Jahren Arbeit mit mehr als 16.000 Patienten. Mittlerweile ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass sich das Gehirn durch Meditation verändert. Dadurch hat sich die Gesellschaft für das Thema, das vielen früher unheimlich und suspekt war, geöffnet. Immer mehr Therapeuten und Mediziner beschäftigen sich mit Achtsamkeit. Als ich 1982 meine erste Arbeit zur Achtsamkeit veröffentlicht habe, war das weit und breit die einzige zu dem Thema. Heute erscheinen jedes Jahr 500 Veröffentlichungen.

Mittlerweile könnte man meinen: Alle Welt meditiert, macht Yoga. Sie beraten die Tech-Konzerne, Politiker, das Pentagon. Ist Achtsamkeit der neueste Schrei für Führungskräfte?

Achtsamkeit ist keine Modeerscheinung wie Aerobics, sondern eine Lebenseinstellung. Sie bringt Ruhe in die Hektik unseres Alltags und hilft uns, besser mit Stress, mit Ängsten, negativen Gefühlen oder Krankheiten umzugehen. Deshalb nutzen natürlich auch viele Führungskräfte, die beruflich sehr eingespannt sind, die Meditation.

Im Jahr 1979 haben Sie einen Kurs entwickelt, der sich Mindfulness Based Stress Reduction nennt, kurz MBSR. Auf der ganzen Welt gibt es heute mehr als 1000 ausgebildete MBSR-Trainer, die andere Menschen schulen. Was für Übungen macht man in den Kursen?

Sie konzentrieren sich auf Ihren Atem, zum Beispiel. Sie wandern mit den Gedanken durch Ihren Körper, spüren, wo es schmerzt, ob Sie sich wohl fühlen. Und Sie lernen, eine Rosine zu essen, in aller Ruhe.

Eine Rosine? Die ist schnell geschluckt.

Eben nicht. Sie sollen sich minutenlang mit der Rosine beschäftigen. Wie sieht sie aus, wie fühlt sie sich an, wie schmeckt sie? Dabei merken Sie, wie schwer es ist, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Auf eine einzige. Wenn ich esse, dann esse ich bewusst. Wenn ich spazieren gehe, genieße ich die Natur, beobachte die Umgebung, lausche auf die Geräusche und atme die Düfte. Wenn ich mit meinen Kindern telefoniere, höre ich ihnen zu. Ich schreibe keine To-do-Listen nebenher. Und wenn ich arbeite, tue ich das konzentriert.

Lassen wir uns zu leicht ablenken?

Und wie! Der Geist liebt es, herumzuwandern, er schlägt ununterbrochen Kapriolen. Das darf er auch. Die Kunst ist es, sich dessen bewusst zu werden, ihn sanft einzufangen und die Arbeit wieder aufzunehmen.

Lenken Smartphones uns zusätzlich ab?

Selbstverständlich. Da gilt: Je häufiger man sie ausschaltet und weglegt, umso besser. Denn es geht eine reale Suchtgefahr von ihnen aus. Wenn man sieht, was sie im Gehirn bei uns auslösen, dann ist das vergleichbar mit den Vorgängen, die Kokain hervorruft.

Aber der permanente Zugang zum Netz mit seinen Verlockungen ist nicht mehr wegzudenken.

Das stimmt. Das ist die Herausforderung unserer digitalen Zeit. Wir müssen einen Weg finden, damit zu leben.

Der wäre?

Erst die richtige Arbeit erledigen, dann die E-Mails checken. Am besten zu festen Zeiten, nicht ständig zwischendurch und nie im Bett vor dem Aufstehen. In der Klinik arbeiten wir mit vielen Führungskräften zusammen, die nicht mehr unterscheiden können zwischen wichtiger und unwichtiger Arbeit. Das zermürbt sie.

Was fehlt den Managern?

Disziplin. Die kommt uns zunehmend abhanden. Viele Menschen sind heute nie voll bei der Sache. Sie sind gefangen im Chaos ihrer Gedanken und Gefühle, schweifen ständig ab, werfen immer wieder einen Blick auf ihr Smartphone, was für neue Infos dort eintreffen. Viele hören nicht mehr auf ihren Körper. Und irgendwann brechen sie zusammen.

So ein Zusammenbruch deutet sich also an?

Natürlich. Nur bemerken es die meisten nicht, weil sie die Signale, die der Körper aussendet, wegdrücken, ignorieren. Sie wollen sie gar nicht bemerken. Die Gründerin der „Huffington Post“, Arianna Huffington, hatte vor einigen Jahren einen Zusammenbruch. Sie sagt, hätte man sie am Tag zuvor gefragt, wie es ihr geht, sie hätte geantwortet: blendend, bisschen viel um die Ohren, aber alles im grünen Bereich. Erst im Nachhinein sei ihr klargeworden, dass sie da schon längst am Ende war. Das ist ganz typisch.

Aber sind es nicht die Jobs, die uns heute einfach zu viel abverlangen?

© Polaris/laif

„Früher haben Manager heimlich meditiert, heute bekennen sie sich dazu“, sagt Jon Kabat-Zinn, 70.

 

Nein. Wir sind definitiv viel zu lange im Büro, das stimmt. Aber da ist viel vertane Zeit dabei. Wir könnten weniger und kürzer arbeiten, wenn wir intelligenter arbeiten würden.

„Work smarter“ lautet die Losung?

Wer konzentriert bei der Sache ist, braucht viel weniger Zeit. Da wir in unserer schnelllebigen Zeit aber meinen, nie genug Zeit zu haben, machen wir permanent etliche Dinge gleichzeitig. Das führt dazu, dass wir nichts zu Ende bringen.

Wir verheddern uns?

Genau. Die meiste Zeit sind wir gedanklich mit Dingen beschäftigt, die noch vor uns oder bereits hinter uns liegen. Von morgens bis abends hetzen wir uns ab, um irgendwo hinzukommen, aber bevor wir ankommen, sind wir gedanklich schon längst wieder weg. Das ist nicht gesund auf Dauer. Denn der Augenblick, das Hier und Jetzt, ist das einzige, was wir haben.

Das widerspricht dem Multitasking.

Es gibt nichts Schlimmeres! Wie soll ich ein Unternehmen gut führen, wenn ein Teil von mir stets abgelenkt ist?

Was also, raten Sie, ist zu tun?

Lernen, nichts zu tun. Das ist nicht einfach. Nichts-Tun muss geübt und praktiziert werden. Das ist kein esoterisches Konzept, keine Philosophie, die man verstehen muss, sondern ein Muskel, der trainiert werden will. Jeden Tag, immer wieder, auch wenn es schmerzt und man keine Lust hat.

Und wenn man keine Zeit hat?

Das zählt nicht. Jeder hat ein paar Minuten am Tag, um sich ruhig hinzusetzen und auf den Atem zu achten. Oder sich auf den Rücken zu legen und auf den Körper zu hören. Da reichen fünf Minuten.

Und schon bin ich eingeschlafen.

Das ist dann ein sicheres Zeichen dafür, dass Sie übermüdet sind. Viele Führungskräfte verlangen sich zu viel ab und sind dauerhaft übermüdet. Damit schaden sie sich und der Arbeit. Denn wer ist konstruktiv und kreativ, wenn er mit dem Schlaf kämpft?

Die wenigsten.

Niemand! Aus gutem Grund verbieten wir Lastwagenfahrern weiter zu fahren, wenn sie müde sind. Aber ein Manager soll nach zehn Stunden Arbeit immer noch alles richtig machen? Bill Clinton hat mal gesagt, dass er die meisten schlechten Entscheidungen getroffen hat, als er müde war. Das geht allen so. Das können Unternehmen sich nicht leisten.

http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/yoga-lehrer-kabat-zinn-ueber-smartphone-sucht-und-nichtstun-13483207.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

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