Sich selbst aushalten. Immer wieder eine Herausforderung. – Der Sommer war groß, heiß und strahlend. Er trieb uns hinaus, ließ uns Fülle, Begegnungen und selbst die warmen Nächte genießen.
Nun aber werden die Schatten länger, die Nächte kühler, die Dunkelheit kommt früher. Mit dem Herbst richtet sich der Blick nach innen. Das sich selbst aushalten – und annehmen – gewinnt an Bedeutung.
Die Zeilen in Rainer Maria Rilkes Gedicht Herbsttag bringen diese Stimmung auf den Punkt:
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los.Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage die letzte Süße in den schweren Wein.Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Aushalten – annehmen
Sich selbst aushalten klingt hart, fast nach Kampf. Doch im Zen geht es nicht um Widerstand, sondern um ein freundliches Annehmen. Aushalten heißt, nicht davonzulaufen. Annehmen heißt, sich selbst Raum geben.
Die Stille ist dabei wie ein Spiegel. Sie zeigt, was ohnehin da ist: Gedanken, Gefühle, Ruhe oder Unruhe. Wir halten nicht uns selbst aus, sondern die Bewegungen des Geistes, die in uns aufsteigen – und wieder vergehen.
Allein sein – mit sich sein – eins sein
„Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“, schreibt Rilke. Doch Alleinsein bedeutet nicht notwendig Einsamkeit. Es kann auch heißen: mit sich sein. Und noch tiefer: eins sein – mit dem, was ist.
In dieser Erfahrung wird Alleinsein Weite. Es trägt, statt zu trennen. Wir spüren: Nichts ist wirklich fest, kein Zustand bleibt. Der Herbst erinnert uns daran: Alles wandelt sich.
Blätter, die nichts festhalten
Herbstblätter, die fallen, halten nichts fest. Lautlos lösen sie sich, sinken, und gerade darin sind sie frei. So können auch wir Gedanken und Gefühle kommen und gehen lassen. Wir müssen sie nicht festhalten, nicht bekämpfen.
Der Herbst erinnert uns an die Vergänglichkeit aller „Dinge“ und Phänomene. Nichts ist beständig, alles im Fluss der Veränderung. Gelassenheit und Gleichmut sind das Scharnier zwischen Nicht-Festhalten und Neu-Entstehen-lassen.
Dieses Loslassen ist Vertrauen: Was auftaucht, vergeht wieder. Und was vergeht, macht Raum für Neues.
Atem, Körper, Wirklichkeit
Wie aber, wenn es schwer wird, bei sich zu bleiben?
Dann können Atem und Körper Brücken sein. Das ruhige Kommen und Gehen des Atems. Das Spüren des Körpers, wie er jetzt hier sitzt. Diese einfachen Anker verbinden uns mit der Wirklichkeit des Augenblicks – und helfen, sie anzunehmen.
Einfach sitzen
Im Zen nennen wir es Zazen – einfach nur sitzen. Sitzen ohne Ziel, ohne etwas festhalten zu wollen. Sitzen, während alles kommt und geht: Gedanken, Gefühle, Einsamkeit, Freude, Stille.
So erfahren wir, dass wir nicht mit unseren Stimmungen, Gefühlen, Gedanken identisch sind. Wir lassen sie ziehen wie Blätter im Wind. Und genau darin geschieht Befreiung.
Gemeinsam tragen
Sich selbst aushalten heißt nicht, sich zu isolieren. Auch die mit denen wir zusammen in der Meditation sitzen (Sangha), diese Gemeinschaft, trägt uns. Manchmal hilft es, nicht allein zu sitzen, sondern gemeinsam – jeder bei sich, und doch verbunden.
Ein Lächeln
Und manchmal heißt sich selbst aushalten schlicht: über sich selbst schmunzeln. Sanft, freundlich, ohne Urteil. Auch das ist Zen. Ein Feld zwischen aushalten, annehmen und loslassen.
Erstveröffentlichung: 1.10.2016