Niemand sein zu wollen, das kommt uns eher selten in den Sinn. Viel öfter wollen wir jemand sein, verfolgen ein Bild oder Ziel davon, wer wir sein wollen oder das andere wollen, das wir diesem Bild entsprechen. Ein toller Partner in der Beziehung sein, super Vater oder Mutter, erfolgreicher Unternehmer, angesehener Gemeindevertreter, beliebter Kollege, kompetenter Lehrer, sympathischer Nachbar … . Niemand sein zu wollen erscheint uns sehr fremd.
Nichts tun, nirgendwo hingehen, niemand sein
Zu Beginn eines 7 Tage Sesshins – eine längere Zeit des gemeinsamen Rückzugs mit intensiver Meditation wird im Zen „Sesshin“ genannt – eröffnete der Zen Lehrer das Sesshin mit den Worten: „Nothing To Do, Nowhere To Go, No One To Be – Nichts zu tun, nirgendwo hinzugehen, niemand zu sein“. (Zu „Nichts Tun“ und „nirgendwo hingehen“ habe ich in diesem Blog schon geschrieben.)
Die erste Reaktion darauf war: „Oh, wie toll. Das ist ja leicht. Wie in die Hängematte legen.“ Dieser erste Gedanke hielt nicht lange an und es begann zu dämmern, wie anders das ist im Vergleich zu dem, was im alltäglichen Leben passiert. Immer etwas tun, immer etwas zu tun, Aufgaben abarbeiten. Immer irgendwo hin wollen, Ziele verfolgen. Immer etwas oder jemand sein wollen oder müssen, in eine Rolle schlüpfen, jemandem nacheifern.
Nichts tun, nirgendwo hingehen, niemand sein, das ist das genaue Kontrastprogramm zum täglichen Leben.
Jemand sein, niemand sein – Was macht den Unterschied?
Wenn wir jemand sein wollen, dann haben wir ein Bild vor uns, oder eine konkrete Person. Vielleicht ergeben wir uns so sehr in dieses Bild, diese Idee, bis der Unterschied zwischen dem, was wir sein wollen und dem, wer wir sind, verschwimmt. Das Bewusstsein darüber wer wir wirklich sind, tritt in den Hintergrund, verschwindet.
Letztendlich laufen wir mit einem Etikett auf unserem Selbst herum. Dieses Etikett steht dann für einen Prozess des „Werden-Wollens“ und nicht für das, was ich bin. Wenn ich in diesem Sinn überhaupt etwas bin, dann ist das die Sammlung aus Ursachen, Bedingungen und Erfahrungen, aus denen das Wesen entstand, das heute hier existiert.
Das „Problem“ jemand zu sein
Auf dem Weg jemand zu werden erreicht man auch Zwischenziele, ist jemand geworden. Und dieses Erreichte, diesen Besitzstand gilt es vermeintlich zu verteidigen und auszubauen. Da fließt Kraft und Energie hinein. Diesen Statuts behalten wollen, zu vermehren, ihm anhaften. Dieses Feuer des „Jemand-Seins“ zu schüren ist harte Arbeit.
Gleichzeitig ist das verbunden mit der Ablehnung dessen, was man – ebenso vermeintlich – nicht (mehr) ist. Vielleicht sogar verbunden mit der Angst das Erreichte wieder zu verlieren.
So löst jemand zu sein, der man nicht wirklich ist, Anhaftung, Ablehnung – in einer übersteigerten Form Gier und Angst – aus. Das kostet Kraft, lenkt Fokus und Energie darauf, verstellt den Blick auf anderes und macht einfach viel Stress. Im buddhistischen Kontext würde man hier vom Begriff des Leidens sprechen.
Wie eine Welle, die am Strand ausläuft
Letztendlich bleibt das „Jemand-Sein“ ein Konzept, ein Gebilde aus Gedanken in unserem Kopf. Gedanken sind das was sie sind: Gedanken. Wir sind nicht diese Gedanken. Diese Gedanken sind nicht die Realität. In der Meditation beobachten wir das Kommen und Gehen, mit etwas Übung das Entstehen, Verblassen und Verschwinden der Gedanken, wie Wellen, die über das Meer kommen und am Strand auslaufen.
Den Gedankenkonstrukten rund um „Ich“ und „Mein“ eines „Jemanden“ können wir in der Meditation ebenso versuchen zuzuschauen, wie sie wie Ebbe und Flut ansteigen und sich wieder ein Stück zurückziehen. Sie einfach zulassen, ohne sie ändern oder fixieren zu müssen. Wir müssen sie auch nicht loswerden. Es ist nicht den Versuch, unser Ich-Bewusstsein auszulöschen, sondern vielmehr ein Prozess, bei dem wir uns bewusster werden, wann dieser Jemand, für den wir uns halten, auftaucht.
Diese Art des Bewusstseins kann uns die Möglichkeit bieten, bessere und effektivere Entscheidungen darüber zu treffen, wie wir auf Menschen und Situationen reagieren.
Vielleicht scheint zwischen den Wellen, zwischen Ebbe und Flut auch dann und wann – wie das Funkeln des Perlmutts einer glänzenden Muschel – die Frage durch: „Wer bin ich wirklich?“
Niemand sein müssen – authentisch sein
Wir haben die Chance, uns selbst vom Haken zu nehmen und freier zu werden. Indem wir unsere Energie geschickter einsetzen und sie nicht damit verschwenden, die ständige Anstrengung aufrechtzuerhalten, etwas tun zu müssen, irgendwohin zu gehen und jemand zu sein. „Nothing To Do, Nowhere To Go, No One To Be – Nichts zu tun, nirgendwo hinzugehen, niemand zu sein“.
Beim Experimentieren damit, könnten wir feststellen, dass das Leben ein wenig leichter fließen kann, das Gewicht sich etwas leichter anfühlen kann und wir authentischer der sein können, der wir wirklich sind.
Die Weisheit sagt mir, dass ich nichts bin.
Die Liebe sagt mir, dass ich alles bin.
Zwischen den beiden fließt mein Leben.
(Nisargadata Maharaj)