Erleben oder Erinnern sind zwei sehr unterschiedliche Quellen aus denen wir ein Empfinden von Glück ableiten. Beides spielt im Empfinden von Glück eine große Rolle. Allerdings ergeben sich – je nachdem ob Erleben oder Erinnern im Vordergrund stehen – ganz unterschiedliche Ergebnisse. Sie können unser Empfinden von Glück auf den Kopf stellen.
Erleben aus erster oder zweiter Hand – zum Beispiel Urlaub
Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Du kommst vom Urlaub zurück und stellst fest, du hast dein Handy verloren. Alle Urlaubsfotos sind weg – unwiederbringlich. Dann stelle dir vor, du nimmst eine Pille, die auch alle Erinnerungen in dir löscht. Stelle dir jetzt die Frage: Würde Ich den gleichen Urlaub noch einmal buchen?
Diese Frage stellt Daniel Kahnemann, Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft in einem Video zum Thema: Wie erleben wir Glück? Seine Antwort: Es kommt darauf an, welches Ich wir meinen.
Die zwei Ichs und das Glück
In unserer Brust wohnen zwei „Ichs“. Je nachdem für welches Ich wir den Urlaub gebucht haben, erleben wir Glück anders.
Da ist einerseits das „erlebende Ich“. Es „erlebt“ das Leben und erfährt jeden Moment neu. Es riecht den herannahenden Regen und hört das Zirpen der Grillen. Es nimmt mit allen Sinnen die Welt wahr. Es ist die unmittelbare Erfahrung und nährt unsere lebendige Innenwelt.
Du weisst nicht, was ich meine? Dieses sinnliche Wahrnehmen kannst du im kurzen Video im Beitrag ZEN im Baumarkt – wie ich meine – sehr gut mitempfinden.
Was im Moment passiert, ist das Leben, und wie wir es leben gehört zum erlebenden Selbst. Das erlebende Selbst lebt andauernd, immer, in jedem einzelnen Moment. Und im nächsten Moment ist alles verloren und vorbei. Für dieses Ich ist es gleichgültig, ob die Urlaubsfotos weg sind.
Für das zweite, das „erinnernde Ich“ ist es anders. Es lebt von Erinnerungen, Urteilen und Vergleichen. Es kann sich zwar an die Erfahrung erinnern, aber es erlebt sie nicht mehr. Für das erinnernde Ich wäre der Verlust der Fotos fatal. Dann hat es ja nichts mehr „in der Hand“. Ich kann die Fotos nicht mehr der Nachbarin zeigen und angeben, wie erlebnisreich der Urlaub gewesen ist.
Nichts mehr von den Heldengeschichten, als zum Beispiel der Flug abgesagt wurde, wie wir auf unbequemen Bänken auf dem Flughafen warten mussten, wie uns die Securitybeamten nervten, weil unser Sohn das Wort Bombe in den Mund nahm, wie das gebuchte Hotel nicht verfügbar war, dass der versprochene Meerblick nicht vorhanden und das bestellte vegane Essen sich als Fisch entpuppt hatte.
Diese modernen „Heldengeschichten“ lassen sich trefflich wieder und wieder erzählen, auch wenn das Erlebte uns damals an den Rand des Herzinfarktes gebracht und in Verzweiflung gestürzt hatte.
Welches Ich nähren wir?
Meistens nähren wir dieses erinnernde Ich. Dieses ist dann glücklich, wenn wir auf unser Leben zurück schauen, ob wir genug geleistet haben und ob wir zufrieden mit dem sind, was wir aus unserem Leben gemacht haben. Das erinnernde Selbst bewahrt die Geschichte unseres Lebens. Es freut sich, wenn der Urlaub ungewöhnlich war oder teuer, und wenn die Sehenswürdigkeiten und Kulturstätten alle abgehakt wurden.
Für das erlebende Ich zählt jedoch nicht, was wir über den Urlaub erzählen können, sondern ob er unsere Seele genährt hat. Das erlebende Ich lebt aus erster Hand, das erinnernde Ich aus zweiter Hand.
Erleben oder Erinnern – Glücklich sein IM Leben oder ÜBER das Leben
Es macht einen großen Unterschied, ob wir IN unserem Leben glücklich sind oder ÜBER unser Leben glücklich sind. Die beiden Selbst definieren zwei sehr verschiedene Arten von Glück. Gewöhnlich fördert unsere Umgebung das erinnernde Selbst. Die Frage „Wo warst Du im Urlaub?“ wartet oft auf ungewöhnliche Antworten, wie die erwähnten Heldengeschichten.
Untersuchungen zeigen, dass die beiden unterschiedlichen Begriffe des Glücks – also glücklich sein im Leben und glücklich sein über das Leben – nur sehr wenig miteinander zusammenhängen. Man kann nur etwa so vom einen Glück auf das andere schließen, wie auf die Größe einer Person, wenn man weiß, dass dessen Vater etwa 1,80 m groß ist.
Aus psychologischer Sicht dauert ein Augenblick, ein Moment etwa 3 Sekunden. In einem normal langen Leben sind das etwa 600 Millionen Augenblicke oder 600.000 Augenblicke in einem Monat. Wieviele bleiben davon in Erinnerung? Fast keine. Und dennoch ist genau das unser Leben. Augenblick für Augenblick. Die Frage, ob wir IN unserem Leben glücklich sind, entscheidet sich nur in den erlebten Augenblicken.
Wie nützlich wäre es, wenn wir da auch anwesend, präsent sind? Wenn wir mitbekommen, was im Augenblick gerade los ist? Was wir wahrnehmen? Was wir er-leben? Wie es uns geht? – Nichts anderes ist Zen.
Erlebendes Ich im Zen
Zen gibt es nur im erlebenden Ich. Was ist in diesem Moment? Jetzt? Nur jetzt?
„Ein flammender Blitzstrahl,
Funkensprühen vom Feuerstein.
Ein Zucken der Wimper – und schon ist alles vorbei.“
Aus dem Mumonkan (Koan-Sammlung von Meister Rinzai aus dem 13. Jahrhundert)