Mehr als ein Luftzug? Oder doch nur bewegte Luft? Die Aufmerksamkeit bei der Meditation auf den Atem zu lenken ist eine geeignete „Technik“. Der Atem ist aber mehr als ein Luftzug, mehr als nur ein Hilfsmittel in der Meditation.
Atmen schafft Verbindung
Mit dem Atem holen wir Luft aus unserer Umwelt in unseren Körper, bringen Teile davon zu jeder einzelnen Zelle im Körper, so dass dort die Prozesse stattfinden können, die unser Leben ermöglichen. Danach bringen wir die Luft mit dem Ausatmen wie zurück in die Umwelt. Ok. Für niemanden ist das eine Neuigkeit. Wir wissen dies alles. Auch, dass Leben sofort endet, wenn dieser so gewöhnliche Vorgang auch nur für mehr als nur ein paar Minuten unmöglich ist.
Das Atmen – und die transportierte Luft – schafft darüber hinaus auch Verbindung. Menschen zusammen in einem Raum atmen nicht nur buchstäblich die gleiche Luft. Es ist tatsächlich die gleiche Luft. Teile der Luft, die jemand ausatmet, atmet der Nachbar wieder ein. Über den Atem sind wir verbunden. Selten wurde uns dies so deutlich gemacht wie durch die Zeit des Corona-Virus‘. Menschen mit Atemmasken überall zeugen davon.
Dieser Gedanke lässt sich noch weiterspinnen. Auch über Generationen hinweg. Der Physiker und Nobelpreisträger Fermi belegte in einem Gedankenexperiment in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, dass wir alle nicht nur die gleiche Luft, sondern sogar die selbe Luft atmen. Als Ausgangspunkt nahm er das letzte Ausatmen Caesars bei seiner Ermordung vor 2.000 Jahren („Auch Du mein Sohn, Brutus … ahhhh.“).
Geht man von einer gleichmäßigen Durchmischung der ganzenLuft auf der Erde aus, dann befindet sich in jedem einzelnen unserer Atemzüge rechnerisch mindestens ein Luftmolekül dieses letzten Seufzers Caesars. Alleine schon darüber sind wir nicht nur mit diesem römischen Kaiser, sondern dadurch auch mit jedem anderen Menschen verbunden. Eine spannende Überlegung, oder? – Atem ist Verbundenheit.
Verbunden auch mit der Natur
Diese Überlegung lässt sich noch deutlich erweitern. Alle Luft – zumindest einige Luftbestandteile – die wir ein- und ausatmen, wird irgendwann durch den Prozess der Photosynthese von Pflanzen aufgenommen und wieder abgegeben. Atem schafft also auch Verbundenheit mit der lebenden Natur. Ohne diese Verbindung kein (menschliches) Leben.
Der Luftzug, der Leben ist
In den meisten spirituellen Traditionen hat der Atem eine hervorgehobene Bedeutung. Atem ist mit dem Leben an sich verbunden. Lebende „Dinge“ neigen dazu, zu atmen. Nicht lebende nicht. Diese alten Traditionen vermuteten bereits, dass Atem und Leben eng miteinander verbunden sind, sich bedingen.
Außerdem sahen sie über das Physische hinaus und verbanden den Atem mit dem Geist (das Wort „Geist“ kommt von der lateinischen Wurzel „spiritus“, was wörtlich „des Atems“ bedeutet). In den alten Hindu-Schriften gibt es die Vorstellung eines göttlichen, alles durchdringenden Atem – Brahma.
Das Buch Genesis im Alten Testament verbindet den Atem ebenfalls direkt mit dem Göttlichen: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies in seine Nase den Odem des Lebens; und der Mensch wurde ein lebendiges Wesen“.
Zen – direkte Erfahrung
Zen besteht nicht aus Theorien. Es ist Praxis. Die eigene, direkte Erfahrung steht im Zentrum. Auch bei der Erfahrung des Atmens, wie folgende Zen Geschichte sehr eindringlich und direkt deutlich macht.
Ein Schüler kommt zum Meister und sagt:
„Es langweilt mich sehr, immer nur meinen Atem zu spüren, der ein- und ausgeht. Hast du nicht eine Meditation, die spannender ist?“
Der Zen-Meister antwortete:
„Ja. Du bist jetzt bereit für eine größere Lehre. Folge mir.“
Damit führte der Meister den Schüler in einen Innenhof, in dem ein großes Fass mit Wasser stand.
„Schau in das Fass“, sagte der Meister.
Als der Schüler sich vorbeugte und hineinschaute, stieß der Zen-Meister plötzlich den Kopf des Schülers ins Wasser. Der Meister war sehr stark und konnte den Schüler eine ganze Weile unter Wasser halten, obwohl der Schüler sich verzweifelt wehrte. Schließlich ließ der Meister den Schüler nach Luft schnappen, und als der Schüler nach Luft rang, fragte der Meister:
„Also… ist der Atem langweilig?“
Eine sehr direkte Erfahrung … Die Lektion ist bestimmt angekommen und der Schüler hat diese nie wieder vergessen. Er hat eine Bewusstheit über den Atem gewonnen.
Atem – Mehr als ein Luftzug
Der Atem ist eines jener Dinge im Leben, die wir vermutlich als „nichts Besonderes“ bezeichnen. Wenn wir jedoch dem Atem absichtlich Aufmerksamkeit schenken, wie wir es in vielen Meditationsübungen tun, wird er zu etwas ganz Besonderem. Wenn wir dem Atem unsere Aufmerksamkeit widmen, kommen wir zu einer „hingebungsvollen“ Praxis. Hingebungsvolle Aufmerksamkeit auch nur auf ein paar Atemzügen, kann uns helfen, uns bewusst mit diesem Moment, jetzt, so wie er ist, und damit mit uns und allem Leben dieser Erde zu verbinden.
Das ist die ganze Dimension des Atmens. Der Geist wohnt sogar in dem Atemzug, den du jetzt gerade nimmst. Es ist fast so, als ob der Geist sich an dem offensichtlichsten Ort versteckt hat. Atem ist mehr als ein Luftzug.
Suchst du nach mir? Ich bin auf dem Platz direkt neben Dir.
Unsere Schultern berühren sich.
Du wirst mich nicht in den Stupas finden,
nicht in indischen Schreinräumen,
noch in Synagogen, noch in Kathedralen:
nicht in Messen, noch in heiligen Gesängen,
nicht in Beinen, die sich um den eigenen Hals winden,
noch im Essen von nichts als Gemüse.
Wenn Du wirklich nach mir suchst, wirst Du mich sofort sehen –
Du wirst mich im kleinsten Haus der Zeit finden.
Schüler, sag mir, was ist der Geist?
Er ist der Atem im Atem
Kabir, indischer Mystiker aus dem 15./16. Jahrhundert