Glaubenssätze und Dogmen prägen uns. Viele werden uns bereits im Kindesalter – die meisten sicherlich mit guten Absichten – mitgegeben. Einige Glaubensätze und Dogmen formulieren wir uns später selbst. „Ich bin ein introvertierter Mensch. Es ist nicht mein Ding auf andere zuzugehen.“ „Ich erwarte lieber keine positiven Entwicklungen. Dann werde ich auch nicht enttäuscht.“ „Im Leben bekommt man nichts geschenkt.“ Oder: „Ich bin der größte Präsident aller Zeiten“.
Wir suchen Orientierung durch und in diesen Glaubensätzen. Sie sollen uns helfen, einen Weg zu gehen. Und das tun diese dann auch. Sie nehmen einen großen Einfluss auf den (Lebens-)Weg, den wir gehen. Damit bleibt aber die Frage offen, ob es ein guter, ein „richtiger“ Weg ist. Was immer auch „gut“ oder „richtig“ ist.
Wenn dann aus den Glaubenssätzen Dogmen werden, dann können aus der Orientierung Gitterstäbe und ein Käfig werden. Es ist gut, ein Bewusstsein über die eigenen Glaubenssätze und Dogmen zu entwickeln. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Möglichkeit, diese auch in Frage zu stellen und sich gegebenenfalls auch von ihnen zu trennen. Dann, wenn sie limitieren oder Schaden anrichten.
Glaubenssätze und Dogmen im Zen
Seit Anbeginn der Zeit sucht der Mensch nach der Wahrheit. Vor Tausenden von Jahren saßen unsere Vorfahren unter den Sternen und am Lagerfeuer und diskutierten und stellten sich die gleichen Fragen, die wir uns heute stellen.
Wer bin ich? Warum bin ich hier? Gibt es einen Gott? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Sind wir allein im Universum?
Zen ist hier sehr pragmatisch und bodenständig. Es ist im Wesentlichen eine Praxis, eine Erfahrung, nicht eine Theorie oder ein Dogma. Zen hält sich an keine bestimmte Philosophie oder einen bestimmten Glauben und hat keine Dogmen, welche seine Anhänger akzeptieren oder glauben müssen. Zen ist keine Religion und steht damit auch nicht in Konkurrenz zu Religionen.
Für uns westlich geprägte Menschen spielen Religionen und unterschiedliche Facetten dieser Religionen geschichtlich eine große Rolle. Sie prägen Geschichte und politisches wie gesellschaftliches Handeln. Sie sind Teil unserer Kultur und sie sind voller Dogmen.
Zen gibt keine Antworten
Zen versucht nicht, subjektive Fragen zu beantworten, da dies keine wichtigen Themen für Zen sind. Was wirklich zählt, ist das Hier und Jetzt: nicht Gott, nicht das Jenseits, sondern der gegenwärtige Moment und die Praxis der Meditation (Zazen), die eigene Erfahrung. Und nur die eigene Erfahrung. Nicht was andere an Erfahrung berichten oder glauben, erfahren zu haben.
Darüber hinaus ist Zen fest davon überzeugt, dass niemand die Antworten auf diese Fragen kennt und dass sie aufgrund unseres begrenzten Wesens unmöglich zu beantworten sind. Das Leben – so wie wir es „erleben“ – ist eine große Illusion, die wir durch den Filter unserer Persönlichkeit, unserer Erfahrungen, unseres Egos wahrnehmen. Dies ist ein großes Stück Theater, in dem wir nicht alle Akteure sehen und in dem wir die Rolle derjenigen, die wir sehen, kaum verstehen. Das ist mehr die Weisheit des Nichtwissens.
OK, auch das klingt erstmal wie ein Glaubenssatz. Der Unterschied: Diese Haltung limitiert nicht und nimmt zunächst sämtliche Orientierung weg. Man könnte auch sagen, diese Haltung befreit und eröffnet alle denkbaren Möglichkeiten.
Zen akzeptiert gerne die Vorstellung, dass Menschen nur Menschen sind und nicht mehr. Der Mensch, der ist, was er ist, kann die unmöglichen Fragen des Lebens nicht beantworten, ohne in die Falle der Illusion zu tappen. Niemand kennt die Antworten auf die tiefen Fragen zu Leben und Tod.
Überzeugungen des Zen
Diese Fragen sind angesichts der begrenzten Wissenssphäre, die mit der Bedingtheit, ein Mensch zu sein, einhergeht, nicht zu beantworten. Wie Meister Taisen Deshimaru sagte:
„Es ist unmöglich, eine endgültige Antwort auf diese Fragen zu geben, ohne an einer schweren psychischen Störung zu leiden.“
Bedeutet das, dass Zen die Tür zu metaphysischen, spirituellen Phänomenen verschließt? Auf keinen Fall! Zen kann sie nicht bestätigen oder leugnen, deshalb ist es besser, zu schweigen und einfach im Moment zu leben.
„Zen versucht nicht, subjektive Fragen zu beantworten, die sich auf Gott, das Jenseits, ein Leben nach dem Tod, die Reinkarnation und Spiritualität beziehen.“
Was hält Zen dann von religiösen Überzeugungen? Wie ein großer Zen-Meister einmal sagte: „Der Glaube ist wie das Streichen der Wände deines Zimmers mit Schlamm und dann der Versuch, dich selbst davon zu überzeugen, dass er schön ist und gut riecht“. Der Glaube ist eine Illusion, ein Traum, den wir als sehr real betrachten, der aber in Wirklichkeit nur die wahre Spiritualität des Menschen verarmt.
Die Stärke unseres Glaubens und unserer Überzeugung hat nichts damit zu tun, dass ein Glaube wahr ist oder nicht. Die Wahrhaftigkeit unseres Glaubens liegt nur in uns, nirgendwo sonst.
Zen und Religion stehen nicht im Gegensatz
Deswegen steht Zen auch nicht im Gegensatz zu Religionen wie Christentum, Islam oder anderen. Gerade viele christlich geprägte Menschen, einige davon Priester wie der Jesuit Hugo Lassalle oder der Benediktinermönch Willigs Jäger, fanden im Zen eine hilfreiche Ergänzung für ihr glaubensgeprägtes Leben.
Andere hingegen konnten ihr Verhältnis zu Religion oder Kirche mit Hilfe von Zen klären, klarer werden lassen. Zen steht eben so wenig im Gegensatz zu Religionen, wie es selbst eine Religion ist.
Zen ist lediglich eine Praxis. Eine Praxis, die Gitterstäbe – Glaubenssätze und Dogmen – wegnimmt und große Freiheit im Sein ermöglicht. Religionen fühlen sich gezwungen, Antworten auf alles als Zeichen ihrer „großen Weisheit“ zu geben. Im Zen ist es die große Weisheit, überhaupt keine Antwort zu geben. Aber immer wieder von Neuem, mit Anfängergeist, mit den Fragen sein zu können.
„In einem Anfängergeist existieren unzählige Möglichkeiten, im Geist eines Experten nur wenige.“