Scheitern – das Fallen als Öffnung
Scheitern wollen wir nicht. Es ist ein Gefühl von Versagen, etwas nicht erreicht haben, Fehler gemacht zu haben, nicht gut genug gewesen zu sein. Aber ist das der ganze Blick darauf? Die ganze Wahrheit? Was ist, wenn wir Scheitern nicht als Feind betrachten – sondern als Tor.
Der Moment eines großen Scheiterns, der Augenblick in dem „der Faden reißt“, ist häufig der Moment, in dem wir loslassen müssen – weil nichts mehr hält, wir sind dann im Fall. Und gerade wenn wir fallen, kann etwas in uns aufwachen, das vorher keine Chance hatte, sich zu zeigen.
Das „Ich“, das Kontrolle möchte, das stark erscheinen will, das recht behalten möchte, bricht im Scheitern auf. Und in genau diesem Aufbrechen kann ein inneres Weichwerden entstehen – eine Offenheit, die nicht mehr an einer bestimmten Identität, Funktion oder Leistung festhält. Eine Offenheit, die nichts mehr darstellen muss und niemandem etwas beweisen will. Sie ist einfach da – still, weich, gegenwärtig.
Zen-Geschichten des Scheiterns
Viele Zen-Geschichten erzählen von Momenten, in denen ein Schüler scheitert – und gerade dadurch einen Durchbruch erlebt. Eine dieser Geschichten beginnt schlicht:
Ein Schüler fragt seinen Meister: „Was ist die höchste Wahrheit?“
Er erwartet vielleicht eine tiefe philosophische Antwort, einen poetischen Satz, eine Erklärung des Universums. Stattdessen sagt der Meister nur:
„Der Reis ist gekocht, das Wasser ist warm.“
Der Schüler ist enttäuscht, vielleicht sogar verärgert. Die Antwort erscheint banal. Er denkt, der Meister nimmt ihn nicht ernst – und er fühlt sich gescheitert in seinem Bemühen, die große Wahrheit zu erkennen.
Erst später, als er beim Kochen sitzt, den Duft des Reises riecht, den warmen Dampf aufsteigen spürt, beginnt er zu begreifen: Die höchste Wahrheit zeigt sich nicht in Worten – sondern im ganz Konkreten, im Leben selbst, im Jetzt.
Seine Frage war ein Versuch, dem Leben zu entkommen – in etwas Abstraktes, Erhabenes, in diskursives, intellektuelles Denken. Die Antwort des Meisters holte ihn genau dorthin zurück, wo Leben stattfindet: zum gekochten Reis, zum warmen Wasser, in die Wirklichkeit des Augenblicks.
In diesem Moment zerbrach etwas in ihm – seine Idee von Wahrheit, seine Erwartung an Erkenntnis. Und genau in diesem Bewusstwerden von Scheitern begann sein Verstehen.
Das erinnert an eine ebenso deutliche wie berührende Liedzeile im Song „Anthem“ von Leonard Cohen:
„There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“
Da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt.
Wenn etwas zerbricht, aufbricht, dann ist das Scheitern, dann ist dieser Riss der Ort, wo neue Erkenntnis möglich wird. Erst durch den Riss, das Aufbrechen, entsteht die Möglichkeit tiefer zu gehen, Neues zu erfahren. Und es geht dabei nicht nur um Risse in „Dingen“. Es geht dabei auch um die kleinen und größeren „Risse“ in uns, die das „Licht“ hineinlassen.
Mitgefühl durch Scheitern
Wer bewusst scheitert – oder bewusst nicht vor dem Scheitern ausweicht oder flieht –, entwickelt ein tiefes Mitgefühl.
Für sich selbst – weil man erkennt: Ich bin nicht perfekt, und das ist in Ordnung.
Und für andere – weil man sieht: Auch du kämpfst, auch du ringst, auch du fällst.
Zen lehrt uns, auch im Fallen ganz da zu sein. Nicht dramatisch. Nicht selbstzerstörerisch. Sondern mit einem stillen, klaren Blick:
„Ah – auch das ist Teil meines Weges.“
Mitgefühl und das Scheitern selbst sind dann weder Schwäche noch Versagen. Sie sind Stärke und ein neuer Ausgangspunkt für die nächsten Schritte, die nächsten Aufgaben, für Wachstum und Entwicklung. Dann stehen wir auf einem festeren Fundament für kommende Herausforderungen, ganz ohne zu vergessen, dass wir erneut scheitern können … und dadurch wieder neue Erkenntnisse, neues Wachstum möglich ist.
Nich falsch verstehen. Hier soll Scheitern, was oft schmerzlich, unangenehm, unbequem und mit Selbst-Zeifeln verbunden ist, nicht heroisiert, nicht verherrlicht werden. Aber eben auch nicht verdammt. Es ist Teil des Lebens, Teil von Wachstum, Teil des Weges.
Impuls zur Praxis: Scheitern bewusst machen
Nimm dir immer wieder ein paar Minuten Zeit, um still auf deine Situation zu schauen. Gibt es einen Moment, in dem etwas nicht gelungen ist? Einen kleinen Stolperer, ein Missverständnis, eine Unachtsamkeit? Es geht nicht um große Dramen, sondern um die kleinen Risse im Gewebe des Alltags. Wenn du solche Momente entdeckst, wende sie ein wenig in deinem Geist – nicht mit dem Blick der Selbstkritik, sondern mit freundlicher Aufmerksamkeit.
Frage dich:
- Was genau ist geschehen?
- Wie hat sich das im Körper angefühlt?
- Wie habe ich darauf reagiert – innerlich und äußerlich?
- Was hat mich daran berührt, bewegt oder vielleicht sogar zum Schmunzeln gebracht?
So wird aus dem Scheitern keine Schuldfrage, sondern ein Übungsfeld für Bewusstheit und Selbst-Mitgefühl.
Abschlussgedanke
„Der Fehler ist der Eingang zur Wahrheit.“
(Zen-Spruch, sinngemäß)
Scheitern im Zen – oder auch ganz allgemein in der Welt und im Leben, da gibt es keinen Unterschied – bedeutet nicht, dass etwas nicht funktioniert.
Es bedeutet, dass die gewohnte Struktur loslässt – und damit Raum entsteht. Raum für Echtheit, für Menschlichkeit, für Verbundenheit.
Vielleicht ist das größte Scheitern nicht, einen Fehler zu machen – sondern zu glauben, man dürfe keinen machen.