Leere Tasse | Teil 1: Die Bereitschaft, Unwissenheit zuzulassen & Demut gegenüber festgefahrenem Wissen
Im Zen begegnen wir oft Geschichten, die scheinbar einfache Alltagsbilder verwenden, um tiefe Einsichten zu vermitteln. Eine davon ist die Geschichte der „leeren Tasse“.
Sie zeigt uns, warum es manchmal nötig ist, uns für einen Moment von unserem Wissen, unseren Meinungen und Vorurteilen zu lösen, um Raum für Neues oder gar tiefere Einsichten zu schaffen.
Ständig strömen neue Informationen auf uns ein. Wissen vermehrt sich scheinbar oder tatsächlich. Da scheint das Loslassen von etablierten oder festgefahrenen Ansichten ein Luxus – oder vielleicht auch eine Schwäche – zu sein. Doch Zen lädt uns ein, die Fähigkeit zu entwickeln, vermeintliches Wissen loszulassen und Unwissenheit bewusst zuzulassen. Wir erfahren Wissen als eine flexible, sehr oft nicht endgültige Form von Wahrheit.
Zen-Geschichte: Einsicht in der leeren Tasse
Da war ein Professor der Philosophie, der aus dem Westen reiste, um bei einem Zen-Meister Einsicht in Fragen über die Zen-Lehre, die Welt, das Universum und die Unendlichkeit zu finden.
Er brannte darauf, über Meditation, Weisheit und spirituelle Erkenntnis zu sprechen. Es sprudelte nur so aus ihm heraus, was er alles schon darüber gelesen und gehört hatte, was er schon alles weiß.
Der Zen-Meister hörte dem Professor geduldig zu, während dieser seine unzähligen Fragen und Gedanken äußerte. Schließlich sprach der Meister ruhig: „Du hast eine weite Reise hinter dir und siehst müde aus. Ich werde dir eine Tasse Tee bringen.“
Der Professor wartete, doch innerlich war er unruhig und ungeduldig. Er wollte nicht Tee trinken, sondern Antworten auf seine brennenden Fragen finden! Doch der Meister nahm eine Teekanne und begann, Tee in die Tasse des Professors zu gießen. Die Tasse füllte sich rasch, doch der Meister goss weiter ein, bis der Tee überlief und auf die Untertasse und den Tisch floss.
Erschrocken rief der Professor: „Halt! Die Tasse ist voll – sie kann nichts mehr aufnehmen!“
Der Zen-Meister lächelte und sagte leise: „Genauso ist es mit deinem Geist. Er ist voll von Wissen, Fragen und Meinungen. Selbst wenn ich dir Antworten geben würde, wäre kein Platz für sie. Geh also und leere deine Tasse. Dann komm zurück, wenn du bereit bist.“
Die Bereitschaft, Unwissenheit zuzulassen
Diese Geschichte zeigt, dass es schwer sein kann, Unwissenheit zuzulassen, besonders wenn wir uns sicher und kompetent fühlen. Und dass es schwer sein kann Raum zu schaffen um wirklich Neues in sich aufnehmen zu können. Doch wahres Lernen und tiefe Einsicht können oft nur entstehen, wenn wir die Bereitschaft haben, einen Zustand des „Nicht-Wissens“ zu akzeptieren. Dieser Zustand ist im Zen eine Form von Offenheit – eine leere Tasse, die sich füllen lässt.
Unwissenheit hier nicht als Mangel, sondern als Potenzial zu sehen, mag für den modernen Geist ungewöhnlich erscheinen. Doch genau dieses Nicht-Wissen öffnet uns für frische Perspektiven, für Neues, das jenseits unserer bisherigen Denkmuster liegt. In unserer Meditationspraxis können wir üben, dieses Nicht-Wissen willkommen zu heißen und dabei die Fülle zu erleben, die in der Leere liegen kann. Der Begriff – oder die Haltung – des Anfängergeistes im Zen steht dafür.
Demut und das Loslassen von festgefahrenem Wissen
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Geschichte ist die Demut, die darin liegt, an festgefahrenem Wissen nicht anzuhaften und es loszulassen. Häufig empfinden wir Wissen als eine Art Schutzschild, ein Mittel, um Kontrolle und Sicherheit im Leben zu gewinnen, vielleicht auch als Statussymbol.
Doch genau wie der zu viel eingeschenkte Tee die Tasse überfließen lässt, behindern wir uns selbst, wenn unser Geist mit festen Meinungen und Überzeugungen gefüllt ist. Dieses Wissen wird dann zu einem schweren Gepäck, das uns daran hindert, neue Erkenntnisse zuzulassen und zu verinnerlichen.
Demut im Zen bedeutet, das Wissen und die bisherigen Erfahrungen, die wir mit uns tragen, immer wieder loszulassen und es nicht als „absolut“ oder „endgültig“ zu betrachten. So können wir lernen, die Welt mit frischem Blick zu sehen und eine Neugier zu bewahren, die tiefere Einsichten fördert. In der Meditation werden wir eingeladen, unsere verfestigten Urteile und Vorstellungen zu „verflüssigen“ und beiseitezulegen, um einen Zustand reiner Gegenwärtigkeit und Offenheit zu erreichen.
Wie voll ist Deine Tasse? – Womit ist sie gefüllt?
Die Zen-Geschichte der leeren Tasse (Teil 1)
Die Zen-Geschichte der leeren Tasse (Teil 2)