Raum halten

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Raum halten

Raum halten klingt für unsere Ohren wenig gewohnt. Und doch ist Raum geben und Raum halten eine wichtige Grundlage, wenn wir mit Menschen zusammen sind. Sei es in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis oder im Beruf, im Umgang mit Kollegen und Mitarbeitern.

Raum halten ist ein bewusster Akt der Präsenz, der Offenheit, des Erlaubens und des Schutzes dessen, was ein anderer in diesem Moment braucht. Der Begriff geht über den Gebrauch im privaten Umfeld hinaus und gewinnt auch in beruflichen Kontexten, z.B. bei pflegenden Berufen, als Kompetenz von Führungskräften oder im Coaching an Bedeutung. Raum halten beschreibt den Akt des „Da-Seins“ für einen anderen. Die Auswirkungen dieser Praxis gehen jedoch weit über das bloße Anbieten von Unterstützung hinaus.

Raum halten – Die Wortbedeutung

Betrachte für einen Moment die einzelnen Wörter. „Halten“ bedeutet, jemanden oder etwas zu umarmen oder zu umschließen. Körperlich könnte dies die Form einer Umarmung oder das Halten einer Hand in der eigenen Hand annehmen. Aber du kannst auch jemanden unkörperlich mit deiner Intention, Aufmerksamkeit und Energie umarmen.

„Raum“ bezieht sich auf die unmittelbare Umgebung, die du mit anderen teilst. Auch dies kann der physische Bereich eines Raumes sein, bezieht sich aber häufiger auf die mentale und emotionale Umgebung, in der du dich mit anderen befindest. Zusammengenommen verkörpern diese Worte „Raum halten“, deine Umgebung mit deinem Bewusstsein zu umgeben, so dass ein angenehmes und von Empathie und Mitgefühl geprägtes Umfeld entsteht.

Das Halten von Raum beinhaltet mehrere spezifische Qualitäten des bewussten Umgangs mit anderen, deren Summe größer ist als die einzelnen Teile vermuten lassen. Diese Eigenschaften von „Raum halten“ und wie sie deine Fähigkeit für anderen Raum zu halten vertiefen können, sind im Einzelnen:

Sicherheit

Eine Schlüsselkomponente für das Halten von Raum ist die Qualität der Sicherheit. Damit andere offen, ehrlich und oft auch verletzlich sein können, müssen sie sich sicher fühlen und ein Gefühl des Vertrauens haben. Die Menschen werden ihre Schutzmechanismen nicht fallenlassen, bis sie wissen, dass sie dabei sicher sind.

Wie eine mittelalterliche Kathedrale, die in die Festungsmauern der Stadt eingebettet ist, solltest du eine Umgebung schaffen, in der sich alle, die eintreten, vor Schaden und Gefahr geschützt fühlen. Diese Sicherheit impliziert eine unausgesprochene „Wach- oder Hütehund“-Mentalität, die als Hüterin dient und in allem, was du sagst und tust, Vertraulichkeit, Transparenz und Unbedenklichkeit authentisch wahrt.

Sich selbst zurücknehmen

Ein wichtiger Aspekt des Haltens von Raum ist das Verständnis, dass es nicht um dich geht. Wenn du Raum hältst, musst du die bewusste Entscheidung treffen, dein Ego an der Tür zu lassen. Raum zu halten bedeutet, sich anderen zur Verfügung stellen, anderen zu dienen und deine persönlichen Anliegen oder Bedürfnisse sind für den Moment nicht Teil des Prozesses.

Die Aufhebung eines Gefühls der Selbstbezogenheit kann eine Herausforderung sein und sollte als Voraussetzung für die Praxis angesehen werden. Wenn du nicht in der Lage bist, dein Ego für eine Weile zurückzunehmen, wirst du nicht in der Lage sein, für die Bedürfnisse anderer präsent zu sein. Das Halten von Raum erfordert radikale Demut und die Bereitschaft, vorübergehend für die Gefühle und Sorgen eines anderen da zu sein.

Aufmerksamkeit

Eines der wertvollsten Geschenke, die du einem anderen schenken kannst, ist deine volle und ungeteilte Aufmerksamkeit. Ein aufmerksames Zuhören ist ohne die Notwendigkeit, zu reagieren, zu unterbrechen oder zu kommentieren. Eine Fähigkeit, die viel Übung erfordert, um sie zu meistern. Selbst mit den besten Absichten kann sich dein Ego wieder einschleichen. Es sucht nach Gelegenheiten, subtil wieder dich und deine Angelegenheiten in den Vordergrund zu stellen und nicht die des anderen.

Wenn man Raum hält, muss man fleißig daran arbeiten, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten, frei von Ablenkungen zu sein, voll aufmerksam zu sein und eine Offenheit oder ein „Raumbewusstsein“ zu kultivieren, in dem es kein „Ich“ gibt, sondern nur ein tiefes Bewusstseins für die Situation.

Der britische Autor Stuart Wilde bezeichnete dies als „stille Kraft“. Dies zu kultivieren heißt, sich dem Drang widersetzen zu sprechen, es sei denn, du wirst darum gebeten. Dies, gepaart mit deinem vollen Bewusstsein, kann eine zutiefst kraftvolle Erfahrung für diejenigen sein, die in deiner Präsenz sind. Deine Aufmerksamkeit, fokussiert auf das, was im Moment geschieht, öffnet die Tür für andere, so dass sie sich selbst sehen. Quasi so, als ob ihr Selbst mit sich selbst spricht.

Übung der Akzeptanz

Raum halten basiert ganz auf einer Erlaubnis. Der Erlaubnis einer Person oder Gruppe zu empfinden, was sie empfinden. Damit sie sagen können, was sie zu sagen haben. Erlaube dir selbst das zu sein, was auch immer sie gerade brauchen. Raum halten bedeutet also nicht, irgendetwas zu kontrollieren. Deine Rolle ist die eines Hüters des Raumes. Wie wenn du Wasser in deinen beiden Händen halten willst, so bist du da, um den anderen mit deinem Bewusstsein zu halten. Dabei musst du zulassen, dass diese Erfahrung die Form annimmt, die sie annehmen wird.

Akzeptiere diesen Moment so, wie er ist. Akzeptiere andere so, wie sie sind, ohne den Wunsch, sie zu verändern oder zu wollen, dass sie etwas anderes sind. Auch das kann eine Herausforderung sein, da man konditioniert ist, sofort zu versuchen, Dinge zu ändern, die man für anders hält. Aber, wenn man Raum hält, gibt das Üben von Akzeptanz anderen ein unbezahlbares Geschenk – die Freiheit, so zu sein, wie sie sind.

Nicht Urteilen

Das Halten von Raum ist ein neutraler Prozess. Du bist nicht da, um ein Urteil zu fällen oder andere zu beurteilen. Wenn du die Erfahrung eines anderen beurteilst, erschaffst du zusätzliche mentale Verfestigungen, die nur im Weg stehen und die Wahrheit verdunkeln. In dem Moment, in dem du die Ängste, Leiden oder Trauer eines anderen in der Hand hälst, sind deine Meinungen irrelevant.

Solange du nicht das durchgemacht hast, was der andere durchmacht, wirst du seine Gefühle nie wirklich verstehen. Da zu sein ist genug. Gut und Böse sind nur eine Frage der Perspektive, und in diesem Moment ist deine Perspektive nicht diejenige, die wichtig ist.

Mitgefühl

Obwohl du die Akzeptanz mit deiner vollen Aufmerksamkeit unvoreingenommen praktizierst, heißt das nicht, dass du es nicht vorziehen würdest, dass die Dinge anders oder besser wären. Mitgefühl ist eine wesentliche Eigenschaft für die Praxis des Raumhaltens. Einen anderen so anzunehmen wie er ist, ist ein Akt des Mitgefühls an und für sich.

In einer Offenheit für den Schmerz oder das Leid anderer sagst du im Wesentlichen: „Wie kann ich dir helfen? Ich will nicht, dass du verletzt wirst. Was kann ich tun, um dich zu unterstützen?“ Selbst wenn nicht laut gesprochen, sind diese Absichten, das Leiden anderer zu lindern, die Essenz des Mitgefühls.

In vielen Fällen kann eine freundliche, eine liebevolle Präsenz ein tiefes Gefühl der Erleichterung hervorrufen, das den Schmerz eines anderen lindert. Die Welt kann mehr Mitgefühl gebrauchen, so dass die Praxis des Raumhaltens eine Gelegenheit bietet, diese lebenswichtige Fähigkeit kontinuierlich aufzubauen.

Dabei sein – Anteil haben

Dabei sein, Anteil haben, Anteil nehmen ermöglicht es, eine besondere Rolle zu spielen und dabei den Raum zu halten – den des Betrachters. Im Raum haltend, bist du nur als Zeuge da, fast wie eine Fliege an der Wand. Natürlich kannst du dich einbringen, wenn du dazu aufgefordert wirst. Aber im Wesentlichen ist deine Rolle die des Beobachters.

Raum halten als Praxis

Den Raum halten ist eine Praxis, in der dem du als eine Art von Gefäß dienst, in dem eine Wandlung und Transformation stattfinden kann. Es ist ein kraftvolles Geschenk der Präsenz, das du anderen durch die Qualität deiner Aufmerksamkeit schenken kannst.

Quelle: Adam Brady und eigene Ergänzungen

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2 Antworten zu Raum halten

  1. Lydia sagt:

    Vielen Dank für diese sehr differenzierte Erläuterung, was das Raum halten betrifft. Seit Jahren bin ich „Raumhalterin“; nun gibt mir ihr Artikel auch die passenden Begriffe der Ausrichtung in die Hand, die dieses Procedere so wertvoll macht. Herzlichen Dank, Lydia

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